Beschreibung
Henriette Winkler, die fünfundachtzigjährige Patriarchin der Firma Winklerbau, wird auf äußerst brutale Weise ermordet; der Täter muss sein Opfer zutiefst gehasst haben. Tags darauf wird ihr Urenkel Frederik entführt. Ein schwieriger Fall für Staatsanwältin Myriam Singer, verbindet sie doch eine leidgeprüfte Freundschaft mit Frederiks Mutter. Als dem sensationsgierigen Journalisten Udo Jost ein Foto zugespielt wird, weiß Myriam, dass sie das Tatmotiv im Zweiten Weltkrieg suchen muss. Denn das Foto zeigt Henriettes verstorbenen Mann, den Gründer von Winklerbau - zusammen mit einer berüchtigten Nazigröße.
Leseprobe
Zofia Mittwoch, 31. Dezember 1941, Krakau Die Krähen tauchten auf, nachdem mein Vater auf offener Straße erschossen worden war. Seitdem sitzen sie Tag für Tag auf den Dächern, auf den Fenstersimsen, in den kahlen Bäumen. Als ob alle, die verschwunden sind, sich in Krähen verwandelt haben und in deren Gestalt in die Stadt zurückkehren. Nach den Lebensmitteln, der Seife und Hautcreme sollen wir jetzt auch Pelze, warme Stiefel, Handschuhe und Mützen bis fünf Uhr in den Tuchhallen abliefern. Meine Mutter ist darüber so erbittert, dass sie im Bett bleibt und sagt, sie wird erst wieder aufstehen, wenn alles vorbei ist. Daher muss ich gehen. Auf der Grodzkastraße sucht eine Schar Krähen im Müll nach Essbarem. Da sitzen sie mitten im Dreck, und als ich an ihnen vorbeigehe, putzen sie gleichgültig ihr schwarzes Gefieder, das glänzt wie die Nacht, die im Winter schon am frühen Nachmittag hereinbricht. Als ich zu Hause bin, erzählt meine Mutter, dass am nächsten Tag Schreibmaschinen und Grammophone abgeholt werden. Also vergrabe ich die Schreibmaschine unter den Kohlen im Keller. Leszek will mir dabei helfen, doch ich schicke ihn nach oben, als er nicht aufhört zu husten. Am Abend hat er Fieber und möchte, dass ich ihm wieder die Geschichte von den sieben Raben vorlese. Es ist spät, als ich zu Bett gehe. Kurz nachdem ich eingeschlafen bin, werde ich durch ein Brummen geweckt. Unruhe auf der Straße. Ich springe auf und beobachte durch die Verdunkelung eine lange Kolonne Lastwagen, auf denen Soldaten mit Helm und in voller Ausrüstung sitzen. Sie sind völlig mit Schnee bedeckt und sehen aus wie Gespenster. Ich bin dreizehn, und es ist Krieg. Sieben Tage Als der Nachrichtensprecher an diesem Sonntagabend im Januar von 'Russenkälte' sprach, schaltete Henriette Winkler den Fernseher aus und griff mit zittriger Hand nach dem Bordeaux, der seit vierzig Jahren direkt aus Frankreich geliefert wurde. Da war sie wieder, diese Unruhe, die sie Abend für Abend überfiel. Immer dieses Gefühl, etwas vergessen zu haben. Und die Angst, die sie nicht loswurde. Nacht für Nacht dieser grauenhafte Traum, in dem sie durch einen langen Tunnel lief und Menschen begegnete, die schon längst gestorben waren. Um sich abzulenken, schlug sie energisch den Deckel des Flügels nach oben, lehnte den Stock daneben und setzte sich. Chopin, Polonaise fis-Moll, op. 44. Sie schlug die erste Taste an, doch die Finger rutschten ab, so sehr zitterten ihre Hände. Sie sollte sich damit abfinden, dass sie kein Klavier mehr spielen konnte, und es nicht Abend für Abend versuchen. Wie sie sich damit abfinden musste, dass sie nicht mehr arbeiten konnte. Seit Monaten hatte sie das Haus nicht mehr verlassen, weil sie so unsicher auf den Beinen war, dass sie Angst hatte zu stürzen. Und wie ihre zunehmende Hilflosigkeit sie erbitterte, machte sie auch die Stille, die im Haus herrschte, ungeduldig. Sie erhob sich vom Klavierstuhl, um hinüber zum Regal zu gehen. Ihre Hand griff unwillkürlich nach der Aufnahme von Chopins Balladen von Artur Rubinstein aus dem Jahr 1960. Sie hatte sie jeden Abend gehört, wenn sie vom Büro nach Hause gekommen war. Sie mochte seine klaren, entschiedenen Melodien, den perfekten, pointierten Rhythmus. Doch dann entschied sie sich anders. Sie brauchte jetzt Stimmen, die den Raum füllten, die zu ihr sprachen, damit sie vergessen konnte. Denise hatte ihr zu Weihnachten einen CD-Player geschenkt, den zu benutzen sie sich weigerte, obwohl die Musik reiner und klarer klang. Aber die Stimmen der Sänger waren ihr fremd. Sie brauchte die Callas. Die Callas war mit ihr gealtert. Keine junge, energiegeladene Stimme, oder die lebendige Schönheit einer Anna Netrebko konnte die Callas ersetzen. Sie brauchte das Rauschen der Schelllackplatten. Schließlich entschied sie sich für Tannhäuser. Der Geigen wegen, und natürlich das Lied über den Abendstern, das zu der Januarnacht passte. Wagner hatte es immer geschafft, ihre Ängste zu bändigen. Vorsichtig nahm s Leseprobe