Beschreibung
Ein faszinierendes Sittengemälde aus dem frühen Mittelalter. Eine Liebesgeschichte nach wahren Begebenheiten. Als einfallende Normannen ihr Dorf in Schutt und Asche legen, verliert die junge Johanna ihre gesamte Familie. Neuen Lebenssinn findet sie erst als Amme des kleinen Balduin. Stolz verfolgt sie seinen Werdegang zum ruhmreichen Ritter. Doch dann verliert Balduin sein Herz an die Königstochter Judith. Fortan kämpft er um eine Ehe wider alle Standesgrenzen, wider König und Kirche - und vor allem wider Johanna. Denn die Amme sieht in Judith eine Nebenbuhlerin, und um ihre Macht zu erhalten, ist sie zu allem bereit, sogar zum Mord .
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Leseprobe
Brügge, A.D. 864 Johannas Wille zu sterben war stärker als ihre Angst vor dem Tod. Nachdem sie ihren Entschluss gefällt hatte, erwartete sie, dass Zweifel und Panik sie bestürmen würden, doch die Aussicht auf das Ende machte die Welt nicht düsterer, sondern lichter. Die schrecklichen Schreie, die aus dem Nebenraum drangen und von den Qualen zeugten, denen das Irdische oft unterliegt, schienen an Kraft zu verlieren. Vielleicht stellten sich ihre Ohren aber auch nur taub, ließ sich ihr Geist von dem Herzzerreißenden, Hoffnungslosen nicht länger anstecken. Es ist doch bald vorbei, wollte sie der Schreienden am liebsten zurufen, es ist doch bald vorbei. Wenn ich. es erst getan habe, dann bist auch du erlöst. Johanna ging fast traumwandlerisch, ohne das übliche unangenehme Knacken, mit dem die morschen Knochen von ihrem hohen Alter kündeten. Auch der Rücken schmerzte nicht wie sonst vom langen Stehen, sondern fühlte sich an, als könnte sie ihn das erste Mal seit Jahren wieder gerade durchstrecken. Vielleicht hatte ihr Entschluss, den Leib abzustreifen, diesem bereits die Form des Himmlischen gegeben. Jene Form, die er einst nach der Auferstehung des Fleisches erhalten würde, wenn er in ewiger Schönheit erstrahlen und nicht mehr von den Spuren des hiesigen Jammertals zeugen würde. Ihr Haar würde dunkel und kräftig sein, nicht grau und dünn. Ihre Haut wäre glatt und strahlend, nicht faltig und bleich. Ihren Händen würde man nicht ansehen, dass sie oft stundenlang in der Erde gegraben hatten, um Samen zu säen oder Kräuter zu ernten, so wie jene, die sie nun aus ihrer geheimen Vorratskammer nahm. Ihre Schätze befanden sich in kleinen Lederbeutelchen und Tiegeln aus Bronze, die sie in einem langen, schmalen Hängeschrank aufbewahrte. Er war aus dem Geflecht von Ästen gewunden und hing an einem Haken an der Decke. Johanna öffnete einige der Beutel; der Duft, den die vielen Arzneien verströmten, war intensiv, aber sie labte sich nicht daran, als sie das Gift mischte, sondern steckte bereits im Dunst einer Welt fest, in der Wohlgerüche nicht mehr zählen. Ehe sie das Gift an ihre Lippen führte, hielt Johanna noch einmal inne. Sie wollte nicht überdenken, was sie plante, aber sie wollte es klar benennen, auf dass der Allmächtige da droben im Himmel auch wüsste, was sie tat - und vor allem, warum sie es tat. Zwar sagten die Mönche, dass Seinem gestrengen Blick nichts entginge, aber wer konnte schon mit Gewissheit sagen, ob Er ihr Vorgehen als jenen todernsten Handel betrachtete, bei dem sie höchsten Einsatz zeigte, und nicht als Irrtum einer alten Frau, die ihre Sinne nicht mehr beisammen hatte und versehentlich das Falsche schluckte? Ehe sie starb, wollte sie sich Gott erklären. Es waren Sein Zorn und Seine Rache, die sie hierher geführt hatten, und ihr Versuch, Ihn gnädig zu stimmen, war der einzige Weg, der ihr noch blieb. Obwohl sie im Leben selten gebetet hatte, faltete sie die Hände. Ihre Stimme klang fest, aber fremd. »Höre, Gott, Allmächtiger! Ich, Deine Tochter Johanna, tue Buße für meine Sünden, meine ach so schweren Sünden. Nimm meine Sühneleistung an. Lass nicht andere Menschen für das leiden, was ich verbrochen habe. Schon gar nicht Balduin und Judith. Herr, erbarme Dich meiner. Sei meiner armen Seele gnädig und weiche niemals von Balduin und Judith, wenn ich die Welt bald verlassen habe.« Sie löste ihre Hände voneinander, nahm von dem Gift und schluckte es. Bilder stiegen vor ihr auf, Bilder, die Zeugnis ablegten von ihrem Leben. Sie verwehrte sich ihnen nicht, sondern gab sich ihnen hin, auch der Erinnerung an jenen lang vergangenen Tag, da sie schon einmal in Todesnähe geschwebt hatte. Damals hatte sie unendliche Angst gehabt, hatte mit all ihrer Kraft gegen den Tod gekämpft und schließlich mit knapper Not überlebt. Heute würde sie nicht überleben. Heute war ihr Wille zu sterben stärker als ihre Angst vor dem Tod. Die Amme A.D. 842848 »Die Zahl der Schiffe schwillt an, die endlose Normannenflut hört Leseprobe