Leseprobe
Saal 13 des staatlichen Leichenschauhauses war der Höllenkreis der Schlafenden. Er befand sich im vierten und tiefsten Untergeschoss, im eisigen Inferno der Kühlräume. Dieses Stockwerk war den Leichen ohne Identität vorbehalten, und nur selten verlangte jemand dort Zutritt. Doch in dieser Nacht kam ein Besucher. Der Wächter erwartete ihn vor dem Aufzug, den Kopf in den Nacken gelegt. Er verfolgte die Ziffern, die nacheinander auf der Anzeige erschienen und den Abstieg der Kabine anzeigten, und fragte sich, wer dieser unerwartete Gast wohl sein mochte. Vor allem aber fragte er sich, aus welchem Grund er sich bis an diese äußerste Grenze der Welt der Lebenden vorwagte. Als die letzte Leuchtziffer aufblinkte, war es einen Moment lang still, dann öffnete sich die Aufzugtür. Der Wächter musterte den Besucher, einen Mann über vierzig in einem dunkelblauen Anzug. In seiner Miene spiegelte sich - wie bei jedem, der zum ersten Mal hier unten ankam - das Erstaunen darüber, dass er keine weiß gekachelte, von sterilem Neonlicht erhellte Umgebung vorfand, sondern grün gestrichene Wände und orangefarbene Bodenspots. 'Farbigkeit verhindert Panikattacken', antwortete der Wächter auf seine stumme Frage und reichte ihm einen blauen Kittel. Der Besucher sagte nichts. Er zog sich an, dann gingen sie los. 'Die Toten auf dieser Etage sind vor allem Obdachlose oder illegale Einwanderer. Keine Papiere und keine Verwandten, sie beißen ins Gras und landen hier unten. Sind alle in den Sälen eins bis neun', erklärte der Wächter. 'Zehn und elf dagegen sind für Leute wie Sie und mich, die ihre Steuern zahlen und Fußball gucken und eines Morgens in der U-Bahn an einem Infarkt krepieren. Irgendein Fahrgast tut so, als wollte er helfen, erleichtert sie aber nur um ihr Portemonnaie, und voilà, wie von Zauberhand verschwindet der Kerl für immer. Manchmal ist aber auch ein simpler Fehler der Bürokratie schuld - eine Sachbearbeiterin bringt den Papierkram durcheinander, und den zur Identifizierung herbestellten Angehörigen wird die Leiche eines anderen gezeigt. Für die ist es, als wäre man nie gestorben, sie suchen ewig weiter nach einem.' Er versuchte, den Besucher zu beeindrucken, indem er den Touristenführer spielte, doch der Mann zeigte keinerlei Reaktion. 'Dann sind da die Selbstmordfälle und Unfallopfer, Saal zwölf. Es kommt nämlich vor, dass die Leiche so übel zugerichtet ist, dass man Zweifel hat, ob es sich überhaupt um einen Menschen handelt', fügte er hinzu, um den Magen des Besuchers zu testen, der anscheinend nicht zimperlich war. 'Jedenfalls sieht das Gesetz für alle die gleiche Behandlung vor: Aufbewahrung in einem Kühlraum für einen Zeitraum von nicht unter achtzehn Monaten. Ist der abgelaufen und hat niemand die Leiche identifiziert oder Anspruch darauf erhoben und liegen ferner keine weiteren Ermittlungsgründe vor, wird die Entsorgung durch Kremation angeordnet.' Er zitierte die Bestimmung aus dem Gedächtnis. Danach änderte sich sein Tonfall und wurde vorsichtig, weil das Folgende den Grund für diesen seltsamen nächtlichen Besuch betraf. 'Dann gibt es die in Saal Nummer dreizehn.' Die anonymen Opfer unaufgeklärter Morde. 'Bei Mordfällen stellt die Leiche laut Gesetz so lange ein Beweismittel dar, bis die Identität des Opfers festgestellt wurde', erklärte der Wächter. 'Man kann keinen Mörder verurteilen, solange nicht nachzuweisen ist, dass es die Person, die er getötet hat, wirklich gegeben hat. Ohne einen Namen ist die Leiche der einzige Beweis dafür, dass jemand existiert hat. Deshalb wird sie ohne zeitliche Beschränkung konserviert. Das ist eine von diesen komischen juristischen Spitzfindigkeiten, auf die Anwälte so versessen sind.' Solange die Straftat, auf die der betreffende Todesfall zurückzuführen war, nicht genau bestimmt werden konnte, durften die sterblichen Überreste nicht vernichtet oder dem natürlichen Verwesungsprozess überlassen werden, besagten die gesetzlichen Vorschriften. 'Wir nennen sie die Schlafenden.' Unbeka
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Aus dem Dunkel sind sie gekommen. Und ins Dunkel kehren sie zurück.