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Über die Chirurgie

Roman

Erschienen am 31.01.2005
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783552060036
Sprache: Deutsch
Umfang: 192 S.
Format (T/L/B): 1.9 x 21 x 13 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Bei flüchtigem Hinsehen könnte man die Figuren dieses Romans für unauffällige, in geordneten Verhältnissen lebende Menschen halten. Bei näherer Betrachtung sieht dies jedoch ganz anders aus: Man entdeckt den Chirurgen, der sich immer öfter als Regisseur absurd-blutiger Dramen betätigt, den Schriftsteller, der sich zielstrebig auf einen voyeuristischen Standpunkt zurückzieht, die Psychoanalytikerin, die ihre Patienten durch ihr Verhalten zunehmend verwirrt. Sanft, aber unbeirrbar gleiten die Figuren aus ihren angestammten Rollen und geläufigen Verhaltensnormen. Ums Verrücktwerden geht es in diesem Buch, mit dem uns Paulus Hochgatterer in einer literarischen Tour de Force, mit subtil dosiertem Witz in Grenzgebiete, an die Ränder unserer Welt führt.

Autorenportrait

Paulus Hochgatterer, geboren 1961 in Amstetten/Niederösterreich, lebt als Schriftsteller und Kinderpsychiater in Wien. Er erhielt diverse Preise und Auszeichnungen, zuletzt den Österreichischen Kunstpreis 2010. Bei Deuticke erschienen bisher: über die Chirurgie (Roman, 1993, Neuauflage 2005), Die Nystensche Regel (Erzählungen, 1995), Wildwasser (Erzählung, 1997), Caretta caretta (Roman, 1999), über Raben (Roman, 2002), Eine kurze Geschichte vom Fliegenfischen (Erzählung, 2003), Die Süße des Lebens (Roman, 2006), Das Matratzenhaus (Roman, 2010), Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe. Eine Poetik der Kindheit (2012) und Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war (Erzählung, 2017). 2019 erschien sein neuer Roman Fliege fort, fliege fort.

Leseprobe

1 (Jahrestag, privater Versuch) Er saß in jenem Schnellzug, der den Bahnhof Amstetten um neun Uhr siebenunddreißig erreicht und um neun Uhr neununddreißig wieder verläßt. Der Bahnsteig war weitgehend leer; es stiegen lediglich eine junge Mutter, welcher der Schaffner beim Verladen des Kinderwagens half, und ein Mann mit einer roten Wollmütze zu. Er war von München nach Wien unterwegs. Es war Donnerstag. Beim Ausfahren lagen rechts von den Geleisen endlose Berge von Autowracks. Links flog ein Schwarm Rebhühner auf. Bahnfahren beschert die unglaublichsten Eindrücke, dachte er. Er hatte ein dreihundertfünfzig Seiten starkes Manuskript vor sich liegen, in dem versucht wurde, anekdotisch mit den Jahren um 1968 umzugehen. Der Verfasser nannte sich einen Postexistentialisten, gab sich als Schüler von Habermas und Derrida aus und war achtundvierzig Jahre alt. Er hatte sich zwischen München und Attnang-Puchheim durch die ersten fünfzehn Seiten gequält und seither nichts mehr gelesen. Er hatte kein einziges Mal gelacht. Er würde das Manuskript nicht annehmen. Der Zug hatte eben den Taleinschnitt passiert, und links vorne tauchte der Kirchturm von St.Georgen am Ybbsfeld auf. Das gelbe Bahnwärterhaus mit dem Schranken, der immer noch händisch bedient wurde, huschte vorbei. Vor dem Gemüsegarten wuchsen Holunderbüsche. Er packte das Manuskript in seine Tasche, lehnte sich zurück und ließ die Fingergelenke knacken. Die beiden älteren Damen im Abteil jenseits des Mittelganges unterhielten sich über die heutige Jugend. Die eine sagte etwas von lauter Kommunen, die andere verstrickte graubraune Mohairwolle und nickte. Plötzlich rief die erste: Maria Taferl! Die beiden kamen zu ihm herüber, entschuldigten sich vielmals und starrten aus dem Fenster. Die Rollfähre zwischen Marbach und Krumnußbaum befand sich etwa in der Mitte des Stromes. Das Halteseil zog einen flachen Bogen durch die Luft. Die Damen entschuldigten sich erneut vielmals und nahmen wieder ihre Plätze ein. Sie begannen Schokoladeeier zu essen. Ostern ist zwar erst in vierzehn Tagen, sagte die eine. Die andere nickte. Pöchlarn wurde nach wie vor von dem großen Lagerhaussilo beherrscht. Bahnfahren beschert die unglaublichsten Eindrücke, dachte er. In St. Pölten stieg er aus dem Zug. Am Schalter ließ er sich die Fahrtunterbrechung bestätigen und löste eine Karte nach Amstetten. Zwanzig Minuten später ging ein Eilzug. Er kaufte den KURIER und las einen Artikel über die Gedenkfeiern zur fünfzigsten Wiederkehr des Achtunddreißigerjahres. Der Bahnsteig war leer bis auf einen Schaffner, der offenbar darauf wartete, einen anderen abzulösen. Als der Zug einfuhr, steckte er den KURIER in einen Papierkorb. Die Rollfähre zwischen Marbach und Krumnußbaum befand sich abermals etwa in der Mitte des Stromes. Im Bahnhof Ybbs-Kemmelbach stand ein Zug, der mit Militärfahrzeugen beladen war. Aus einem Garten warfen Kinder Steine gegen die Panzer. Er war damals sechs Jahre alt gewesen. Er glaubte den Anhalteweg des Zuges einigermaßen richtig abschätzen zu können. Vor St.Georgen am Ybbsfeld zog er die Notbremse. Rechts vorne war eben der Taleinschnitt aufgetaucht. Auf der Höhe des Gemüsegartens des Bahnwärterhauses sprang er ab. Der Zug rollte nur noch langsam. Im Schutz der Holundersträucher lief er hinters Haus und versteckte sich im Holzschuppen. Der Schaffner ging außen den gesamten Zug ab. Er blickte ab und zu unter die Waggons. Es war jedoch niemand überfahren worden. Nach einer Viertelstunde fuhr der Zug wieder an. Er ging auf den Taleinschnitt zu. Es hatte am Tag zuvor geregnet, daher benutzte er die Landstraße und nicht den Weg zwischen den Feldern. Ein Traktor überholte ihn. Die Bäuerin, die am Lenkrad saß, erkannte ihn nicht. Er war fein angezogen. Seine Hose war beim Abspringen über dem rechten Knie schmutzig geworden. An einen hölzernen Leitungsmast war ein Schild montiert: ACHTUNG TOLLWUT! Damals hatte es noch viele Füchse gegeben. Einmal hatten sie mit Holzprügeln ein Leseprobe