Beschreibung
Wie ist 'europäische Geschichte' zu schreiben, wenn sowohl ethnisch-religiöse Vielfalt und Konflikte als auch die Kategorie Geschlecht berücksichtigt werden? Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes nehmen verschiedene religiöse Kulturen in den Blick: christliche Gruppierungen, Islam und Judentum. Sie untersuchen, wie diese durch Geschlechterdifferenzen geprägt waren und wie religiöse Konstrukte und Repräsentationen geschlechtsspezifisch vermittelt wurden. Die Beispiele reichen von (vor-)reformatorischen Lese-, Gesangs- und Beichtpraktiken bis hin zu konkurrierenden Deutungsmustern des Priesterzölibats und der jüdischen Alltagskultur.
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Autorenportrait
Claudia Opitz-Belakhal ist Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit in Basel. Monika Mommertz, Dr. phil., ist Habilitandin an der HU Berlin und Forschungsstipendiatin der Herzog- August-Bibliothek Wolfenbüttel.
Leseprobe
Wenn in diesen Tagen vom 'christlichen Erbe' oder auch vom 'jüdisch-christlichen Erbe Europas' die (Fest-)Rede geht, so wird in der Regel auf Hochgestimmtes, Wünschenswertes, Zukunftstragendes angespielt. So wenig man dem Gemeinplatz einen wahren Kern absprechen mag, so unzutreffend wirkt er, wenn in europäischen Traditionen kaum anderes als Einigkeit, Toleranz und Konsens ausgemacht wird. Um andere Seiten dieses Erbes wachzurufen, muss man zeitlich gar nicht so weit zurückgehen, wie aktuelle Debatten um Monotheismus dies tun, in denen die Anfänge der Buchreligionen zur Diskussion stehen. In der Geschichte Europas wurden nicht selten durch religiöse Überzeugungen tiefe Gräben und Bruchlinien aufgerissen; die Koexistenz verschiedener Religionen war lange problematisch und wurde oft erst nach andauernden Kämpfen erreicht. Häufig kam es zu Gewalt zwischen Christen und von Christen gegen Nicht-Christen, darunter insbesondere zu Verfolgungen der jüdischen Minderheit. Der historische Kontinent Europa, der nicht wie der heute geographisch oder politisch fassbare scharf gezogene Grenzen kannte, war über Jahrhunderte hinweg tatsächlich von 'Vielfalt' geprägt - die indes anders aussah als die heute oft beschworene 'Vielfalt in der Einheit'. Wie die neuere Forschung zunehmend in den Blick rückt, umfasste 'Europa ' zwischen Mittelalter und Moderne nicht nur die - heute oft allein angesprochenen lateinischchristlichen Großkonfessionen. Mit dem religiösen 'Europa' meinen wir für die hier behandelten Epochen ebenso die eigenständig organisierten und orientierten orthodoxen Kirchen des Ostens, das Judentum und für manche Regionen den Islam; dazu die zahlreichen christlichen und nichtchristlichen Minderheiten und kleineren Gruppierungen. Nimmt man Europa also nicht nur über seine Zentren und Zentralregionen, sondern auch über die offenen 'Ränder' des Kontinents in den Blick, so wer- den Zonen des religiösen Kontaktes und des Austauschs greifbar, in denen die Glaubensinhalte, Diskurse und Praktiken einander beeinflussten, aber auch miteinander konkurrierten. Ebenso lassen sich im 'Innern' dieses 'offenen Kontinents' beständige Differenzierungs- und Transferprozesse entlang religiöser Definitionen, Konzepte und Organisationsformen als ein Merkmal bereits der mittelalterlichen Gesellschaften beschreiben. Die vormoderne europäische Geschichte war geprägt von wechselseitigen, dabei nahezu durchgängig hierarchischen Zuordnungs, Eingrenzungs und Abgrenzungsmechanismen. Diese Mechanismen begründeten und perpetuierten sich zentral über 'Religion'. Die oft konfliktreiche, bisweilen auch kooperative Pluralität unterschiedlicher religiöser Wahrnehmungsweisen, Praktiken und Institutionen und der darin vermittelten individuellen, gruppenbezogenen und gesellschaftlichen Deutungsmuster und Organisationsformen stellt ohne Zweifel einen konstitutiven Aspekt der alteuropäischen Geschichte dar. Sie war u.a. eine Folge von heftigen Auseinandersetzungen um religiöse Wahrheit und um die damit jeweils legitimierten gesellschaftlichen und politischen Ordnungsmodelle. Religiöse Pluralität mündete deshalb immer wieder in die Herausbildung unterschiedlicher 'religiöser Kulturen', die sich nicht selten erst in längerfristigen Prozessen der Abgrenzung gegenüber und Ausgrenzung von konkurrierenden Gruppierungen und Bedeutungswelten konstituierten. Auf welche Weise und in welchen Begriffen - nicht zuletzt auch von 'Religion' bzw. 'Kultur' selbst - sind solche Prozesse überhaupt angemessen zu beschreiben? Wie ist im Spannungsfeld religiöser Differenzen und Konvergenzen mit Hilfe der Kategorie Geschlecht zu arbeiten? Wie können Geschlechtergeschichte und andere Forschungsansätze so miteinander verknüpft werden, dass wir der spezifisch europäischen Geschichte der Pluralität neue Aspekte und Einsichten abgewinnen? Im Horizont solcher Fragen sollen im Folgenden zunächst einige übergreifende systematische Überlegungen angestellt werden.
Inhalt
Inhalt ''Religiöse Kulturen'' und ''Geschlecht'' Einige konzeptionelle Überlegungen Monika Mommertz/Claudia Opitz-Belakhal Teil I Geschlecht als Moment der Konstituierung und Abgrenzung Mulieres fortes, Sünderinnen und Bräute Christi Geschlecht als Markierung in religiösen Symbolen und kulturellen Mustern des 12. Jahrhunderts Christina Lutter Klösterliches Liedgut und christliche Hausmütter Frauen als Vermittlerinnen christlicher Lehre anhand des geistlichen Liedes Linda Maria Koldau Gemeinsame Geschäfte Selbst- und Fremdwahrnehmung jüdischer Geschäftsfrauen in der Frühen Neuzeit Barbara Staudinger Teil II Geschlecht als Moment der Kontrolle und Disziplinierung Dissimulierende Netzwerke Geschlecht und Kommunikation in den Handlungsstrategien religiöser Minderheiten des 16. und 17. Jahrhunderts Caroline Gritschke Transkonfessionelle Sozialkontrolle unter Katholiken, Unierten und Orthodoxen Geschlechterbeziehungen und Familienkonflikte vor dem Polocker Ratsgericht im 17. Jahrhundert Stefan Rohdewald Ehe, Konversion und Inquisition im frühneuzeitlichen Italien Kim Siebenhüner Eine katholische Ordnung der Sexualität? Konkurrierende Deutungsmuster um den Priesterzölibat im 17. Jahrhundert Antje Flüchter Teil III Geschlecht als Moment der Aneignung und Transformierung Geistliche Viten und Beichtpraktiken Zur Produktion und Überlieferung spiritueller (Auto-)Biographien von Frauen auf der Iberischen Halbinsel und in der Neuen Welt Blanca Garà Der Kleriker und die Leserin Kontrollierte Lektüre im nachtridentinischen Italien Xenia von Tippelskirch Gelenkte Selbsterziehung Das Tagebuch eines zehnjährigen Mädchens aus dem pietistischen Bürgertum Ulrike Gleixner Autorinnen und Autoren
Schlagzeile
Religion und Geschlecht