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Sex als Problem

Körper und Intimbeziehungen in Briefen an die Liebe Marta, Campus Forschung 948

Erschienen am 09.08.2010, 1. Auflage 2010
50,00 €
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593392684
Sprache: Deutsch
Umfang: 393 S.
Format (T/L/B): 2.7 x 21.3 x 14 cm
Einband: Paperback

Beschreibung

Die "Liebe Marta" gab zwischen 1980 und 1995 in einer Boulevardzeitung Tipps zu Liebe und Sexualität. Peter- Paul Bänziger analysiert die Briefe der Leserinnen und Leser, die dort Rat suchten. Er beschreibt ihre Hoffnung auf eine von Beziehungs- und sexuellen Problemen unbelastete Zukunft. Der Sex stellt sich hier als Problem dar, das gelöst werden muss und kann. Darin zeigt sich eine "mechanistische" Auffassung von Sexualität - alles ist machbar und lernbar, Sex ist behandelbar und beschreibbar und wird damit zusehends normalisiert.

Autorenportrait

Peter-Paul Bänziger, Dr. phil., ist Koordinator des Graduiertenkollegs des "Zentrums Geschichte des Wissens" der Universität und der ETH Zürich.

Leseprobe

Geschlecht Liebe, sehr verehrte Marta, seit ich Sie vor einiger Zeit am CH-TV in einer Diskussionssendung mit Heidi Abel und anderen Personen, deren Namen ich nicht mehr weiss, gesehen habe, sind Sie mir sympathisch. Als dann Herr Peter Uebersax diesen Frühling in der Live-Talk-Show mit Heiner Gautschy (CH-TV) noch betont hatte, wie sehr er Sie schätzt, war der Fall für mich klar. Nun aber zum eigentlichen Zweck dieses Briefes. Ob sie mein Problem veröffentlichen wollen oder nicht, überlasse ich Ihnen. Also: Da, glaube ich, manch wichtige Hinweise nicht weitergeleitet, unterschlagen oder missbraucht werden, schreibe ich jetzt an BLICK, da mir die Karikatur von Ronald Reagan in der gestrigen Ausgabe so gut gefallen hat. Sogar mein Sohn ist begeistert davon. Er will diesen BLICK aufbewahren, um ihn seiner Mutter zu zeigen, wenn sie von Amerika zurückkommt.  Ausserdem macht er neuerdings jeden Tag mein BLICK-Bingo! Also: Da ich moralisch sehr streng und puritanisch erzogen worden bin, war ich früher immer entsetzt, wenn ich etwas über das Harem-System hörte. Auch die Eunuchen taten mir leid. Heute, oder eigentlich schon seit langer Zeit, denke ich etwas anders. Die Japaner sind ja, wie man inzwischen auch in Europa gemerkt hat, sehr arbeitsam und vor allem clever (siehe Technik, Militär, Kultur, Strassenbau (Nachtarbeit), Autos usw. usw.). Wenn eine Delegation Japaner nach Basel kommt, sind doch diese zwar klein gewachsenen Männer, ohne Haare auf der Brust, tatsächlich noch fähig, nach einem sicher anstrengenden Flug noch das Basler Münster zu besichtigen oder am nächsten Tag früh aufzubrechen, um auf dem Schilthorn trotz Schnee oder Nebel viele Fotos zu machen. Ausserdem habe ich gehört, dass viele japanische Geschäftsmänner zuhause eine liebe Ehefrau haben, die sich z.B. stundenlang mit Ikebana beschäftigt und erst noch treu auf ihren Angetrauten wartet, bis er am frühen morgen sake-geschwängert von seiner Freundin oder einer Geisha oder einfach von seinem Club zurückkommt. Ich selbst möchte kein Japaner sein, ich bin sehr stolz auf meinen Schweizer Pass. Nur Schweden gefällt mir ebenso gut, wie die Schweiz, obwohl ja viele Schweden saufen wie die Kühe. Aber schliesslich kommts ja darauf an, wie ein Staat geführt wird, und Carl Gustav, für den meine Frau schon während der Pubertät immer geschwärmt hatte, hat ja mit seiner Silvia einen hervorragenden Fang gemacht, und auch die Kinder sind süss. Wie dem auch sei, Liebe Marta, ich wollte Dir nur sagen, dass es sicher auch viele Schweizer Ehemänner gibt, die gerne eine liebe tüchtige Frau und Mutter zu hause haben, (die Frau gehört an den Kochherd und nicht vor den Spiegel) die aber gerne ab und zu in einem guten Restaurant essen möchten, weil die Angetraute einfach nicht genügend gut kochen kann, auch wenn sie sich noch so viel Mühe gibt. Der Grund dafür ist vielleicht der, dass die Geschmäcker halt verschieden sind. Ich z.B. habe gern Meeresfrüchte - meine Frau ist leider allergisch darauf. Herzliche Grüsse, Peter Der Verfasser des Briefes hieß in Wirklichkeit nicht Peter, sondern es handelte sich um eine Frau, Rosa H. Sie war Mitte der fünfziger Jahre geboren und Mutter von zwei Kindern. Beim vorliegenden Schriftstück handelt es sich um das erste von insgesamt acht, die sie im Zeitraum zwischen 1984 und 1992 verfasste. Es ist das einzige, das im Namen einer fiktiven Person geschrieben ist. Alle anderen Texte sind in der ersten Person verfasst und enthalten meistens autobiographische Notizen. Insofern darin Beziehungskonflikte angedeutet werden, enthält möglicherweise auch der zitierte Brief autobiographische Versatzstücke. In ihrem zweiten Brief schrieb Rosa H. nämlich, dass sie seit kurzer Zeit von ihrem Mann getrennt lebe. Sie sei nun auf der Suche nach einem Freund, doch habe sie feststellen müssen, dass jene Männer, die sie sexuell befriedigen könnten, 'entweder Schulden und somit Probleme haben oder straffällig (und somit auch Probleme) waren - oder dann heterosexuell sind'. Erst auf diesen Brief bekam sie eine Antwort, während der erste in einem Ordner mit der Aufschrift 'Briefe (unbeantwortet) 1985 + 1986' abgelegt ist. In ihrer typischen Vieldeutigkeit schrieb die 'Liebe Marta': 'Warum Sie Männer in Schwierigkeiten anziehen ist für mich schwer zu beurteilen. Wahrscheinlich kommen gewisse unbewusste Mechanismen zum Zuge - der Wunsch für einen Mann zu bluten. Es gibt eine Menge derartiger Selbstbestrafungstendenzen. Die Sache kann aber auch ganz simpel sein: Sie haben die Trennung von ihrem Mann noch nicht verarbeitet.' Sie solle sich doch auf ihre Projekte konzentrieren, sich weiterbilden beispielsweise. Gut vier Jahre später schrieb Rosa H., dass sie auf Arbeitssuche sei und dass die Kinder bei ihrem geschiedenen Mann lebten. Sie werde sie aber fragen, ob sie nicht zu ihr zurückkommen wollten. Bedingung dafür sei aber, dass sie wieder eine Arbeit finde, wie früher beispielsweise, als sie Direktionssekretärin einer Großbank gewesen sei. Dazu dürfte es wohl kaum gekommen sein. Wie sie ein halbes Jahr später schrieb, hatte ihr Bruder sie im Februar 1991 in eine psychiatrische Klinik 'einliefern' lassen, 'mit der Begründung ich hätte zuviel Alkohol getrunken (trinke nur ab und zu ein Glas Beaujolais)'. Der Rest des Briefes enthält Klagen über den Klinikalltag und widersprüchliche Angaben zur Geschichte ihrer Ehe. Auch der Inhalt der weiteren Briefe ist nur schwer zu entschlüsseln. Ihr letztes Schreiben beispielsweise beginnt mit einer Erzählung über ihre Scheidung, gefolgt von der Frage, ob sie ihren derzeitigen Freund heiraten solle. Der Brief endet mit Gedanken über die Zahl vier und die Farbe grün sowie einem Lobgedicht auf die 'Liebe Marta'.