Beschreibung
Nach der großen Systemauseinandersetzung des 20. Jahrhunderts mit den Polen Kommunismus und Faschismus erlebt der Populismus seit den 1990er-Jahren einen Aufschwung. Dieses Phänomen stellt die repräsentative Demokratie und ihre politischen Akteure vor neue Herausforderungen. Karin Priester stellt die wichtigsten Definitionen und Typologien des Populismus vor und gibt dabei einen breit gefächerten Überblick über seine neuen Erscheinungsformen im linken und rechten politischen Spektrum: vom Chavismus in Venezuela über die Tea-Party-Bewegung bis hin zur Occupy-Wall-Street-Bewegung in den USA. Vor dem Hintergrund dieser Beispiele fragt die Autorin sowohl nach dem Bedrohungspotenzial als auch nach einer möglichen positiven - erneuernden und korrigierenden - Funktion des Populismus für die repräsentative Demokratie.
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Autorenportrait
Karin Priester war bis 2007 Professorin für Politische Soziologie an der Universität Münster.
Leseprobe
I. Die Aktualität des Populismus Die Moderne lebt von der Distanzierung sozialer Praktiken von konkreten Orten und spezifischen Zeitpunkten (der time-space-distantiation). Für den britischen Soziologen Anthony Giddens sind Kapitalismus, Industrialismus und Nationalstaat Ausprägungen dieser Distanzierung von Zeit und Raum und führen zur Entbettung (disembedding) von sozialer Erfahrung. Populismus ist eine von mehreren Formen der Opposition gegen diesen Prozess der Entgrenzung und sozialen Entbettung. Aber, und das ist seine Besonderheit, er reagiert darauf nicht reflexiv, sondern traditionalistisch. Mit der für ihn charakteristischen Intellektuellen- und Theoriefeindlichkeit verweigert er sich einem reflexiven Umgang mit der Moderne. Stattdessen propagiert er eine unreflektierte, auf einem immer schon vorhandenen Erfahrungswissen des Volkes, dem common sense, beruhende Wiedereinbettung des Sozialen in eine überindividuelle Gemeinschaft. Populismus wurde in den Sozialwissenschaften lange als ein Phänomen verstanden, das in Ländern der Dritten Welt im Übergang von traditionalen zu modernen Gesellschaften entstehe und daher in Europa kaum Chancen habe. Heute stehen wir vor dem Problem, dass die funktionalen Äquivalente des Populismus in Europa starke sozial- oder christdemokratische Volksparteien mit ihrer Fähigkeit zu klassen- und schichtübergreifenden Bündnissen diese Integrationsleistung immer weniger erbringen und sich an ihren Rändern diffuser Protest, anti-institutionelle Affekte und vielfältige Ressentiments ausbreiten. Populistische Tendenzen entstehen in ökonomischen und sozialen Umbruchphasen, die politische Desillusionierung und den Verlust des Vertrauens in die Handlungskompetenz der Eliten hervorrufen. Sie bergen die Gefahr in sich, dass die im 20. Jahrhundert erreichte Synthese des liberalen und des demokratischen Gedankens erneut auseinanderbricht und in ihre Bestandteile zerfällt, in die des liberalen Rechtsstaates und die der Volkssouveränität. Nach 1945 kam es vor allem den großen Volksparteien zu, diese Synthese zu festigen. Sie wird heute durch vielfältige Krisenerscheinungen brüchig, von denen sich Populisten vor allem eine zunutze machen: Die alternativlos erscheinende Verwaltung von 'Sachzwängen', die zugleich als Abkapselung eines in sich rotierenden 'Elitenkartells' wahrgenommen wird. 1. Populismus als bipolarer Code Schon am Beispiel des US-amerikanischen Agrarpopulismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts lassen sich die charakteristischen Merkmale von Populismus aufzeigen. Er verfügte über keine konsistente Gesellschaftstheorie und vertrat, wie alle Populismen nach ihm, nur eine dünne Ideologie. Der Begriff der dünnen Ideologie (thin-centered ideology) geht auf den britischen Politiktheoretiker Michael Freeden zurück. Er untersucht die Morphologie von Ideologien und vertritt die These, dass es neben den Hochideologien des Liberalismus und des Sozialismus Bewegungen gibt, die keine umfassende, von Klassikern des politischen Denkens untermauerte Ideologie vertreten. Als Beispiele nennt Freeden die Frauen- und die Ökologiebewegung oder den Nationalismus, die ein partikulares Anliegen vertreten und sich in vielen anderen Aspekten einer Wirtsideologie (host-ideology) zur Seite stellen (vgl. Freeden 1998a: 488-592 und 1998b: 750f.). Zu diesen Bewegungen mit einer dünnen Ideologie kann auch der Populismus gerechnet werden. Auch er ist aus sich heraus nicht hegemoniefähig, sondern tendiert durch mimetische Anpassung an seine Umwelt zu politischem Farbwechsel. Dennoch gibt es ein Merkmal, das ihn von anderen Tendenzen und Strömungen unterscheidet: seine diskursive Praxis der Polarisierung zwischen Volk und Eliten, den Kleinen und den Großen, zwischen unten und oben. Die Spaltung der Gesellschaft verläuft für Populisten nicht zwischen Klassen oder Schichten, sondern zwischen einer Volk genannten Mehrheit und einer 'Elite, Oligarchie oder Plutokratie' genannten Minderheit. Zum Volk gehören alle, die für ihren Unterhalt hart arbeiten, gleich ob Bauern, Arbeiter, Handwerker oder kleine Gewerbetreibende. Die Elite besteht aus einer kleinen, aber mächtigen Gruppe von Privilegierten, die durch Spekulation und Kapitalkonzentration zu schnellem Reichtum gelangt ist. Weder antikapitalistisch noch antidemokratisch, traten die amerikanischen Populisten gegen die Privilegienherrschaft des neuen Geldadels an und beriefen sich auf das amerikanische Gründerversprechen: 'Equal rights for all, special privileges for none'. Schon die amerikanischen Populisten waren aber nicht gegen Verschwörungstheorien und die Dämonisierung des Gegners gefeit. Dieser Tendenz zum Manichäismus, mitunter auch zu apokalyptischen Endzeitstimmungen, liegt ein dichotomisches Gesellschaftsbild zugrunde, das seither jede Form von Populismus kennzeichnet. Populisten übten nachhaltigen Einfluss auf die amerikanische Politik aus, auch wenn es ihnen nicht gelang, eine gesamtgesellschaftliche Kraft zu werden. Aber viele ihrer Forderungen sind aktuell geblieben, vor allem ihr Kampf gegen einen Laissez-faire-Kapitalismus. Sie beharrten darauf, dass die Regierung auch Verantwortung für das Gemeinwohl und den gemeinen Mann tragen müsse. In den USA gelten auch linksliberale Bewegungen als populistisch. Der sogenannte New Populism der 70er Jahre entstand vor dem Hintergrund neuer Bewegung wie der Anti-Vietnamkriegsbewegung, der Bürgerrechtsbewegung der Afro-Amerikaner und anderer Bewegungen, die mehr Partizipation, Empowerment und lokales Bürgerengagement forderten. Auch in Europa ist es seit den 1970er Jahren zu vergleichbaren Bewegungen gekommen. Aber sie wurden nicht als Erscheinungsformen von Populismus, sondern als neue soziale Bewegungen thematisiert. Populismus stand in Europa immer im Ruch einer gewissen Rechtslastigkeit, und dies aus guten Gründen: Bauern- oder Landvolkprotest, aber auch die zahlreichen klein- und bildungsbürgerlichen Organisationen der Völkischen gerieten hier ins Magnetfeld des Faschismus (vgl. Burrin 1984). Auch der amerikanische Populismus kannte antisemitische, fremdenfeindliche und nativistische Tendenzen. Aber sie konnten vor dem Hintergrund einer liberalen politischen Kultur nie antidemokratische Tendenzen ausprägen wie in Europa, weil es dem politischen Mainstream gelang, sie einzuhegen.