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Auf die Wirklichkeit zeigen

eBook - Zum Problem der Evidenz in den Kulturwissenschaften, Schauplätze der Evidenz

Erschienen am 07.01.2016, 1. Auflage 2016
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593430430
Sprache: Deutsch
Umfang: 431 S., 16.96 MB
E-Book
Format: PDF
DRM: Digitales Wasserzeichen

Beschreibung

Der Reader versammelt programmatische Ansätze der kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Problem der Evidenz aus dem Blickpunkt der Sprach-, Geschichts-, Kunst- und Literaturwissenschaft, Medientheorie, Anthropologie und Soziologie.Mit Beiträgen u.a. von Rüdiger Campe, Iris Daermann, Egon Flaig, Peter Geimer, Vinzenz Hediger, Caspar Hirschi, Ludwig Jäger, Albrecht Koschorke, Helmut Lethen, Jakob Moser, Inka Mülder-Bach, Jan-Dirk Müller, Karl Schlögel, Florian Sprenger, Jakob Tanner, Marcus Twellmann, Juliane Vogel und Claus Zittel.

Autorenportrait

Helmut Lethen ist Direktor des IFK Wien und hat dort 2007 den Schwerpunkt »Kulturen der Evidenz« ins Leben gerufen. Seine Gebiete sind Historische Avantgarden, philosophische Anthropologie und Mediengeschichte.

Leseprobe

Vorwort

Helmut Lethen

"Die Geschichte hat um den modernen westlichen Menschen, der so reich ist, zahllose Filter, Städte, Werbeflächen, medizinische Versorgungssysteme, Techniken, Versicherungen, ein ganzes Netz aus Stützgerüsten und Gewohnheiten errichtet, das Harte hat Seltenheitswert bekommen für ihn und um ihn herum; das Logische füllt die Bildschirme und Leinwände, bedeckt die Wände und durchzieht seine Arbeit, es hat ihn bei lebendigem Leib verschlungen, er ist rundum eingetaucht in die Welt der kleinen Energien. Um uns aus diesem Schlaf zu reißen, reicht der Empirismus nicht mehr aus []" (Michel Serres, Die fünf Sinne)

Vage Begriffe können große Unruhe im Feld der Wissenschaften stiften. Als das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) sich vor acht Jahren zum Schwerpunkt "Kulturen der Evidenz" entschied, war damit die Erwartung verbunden, "ontologische Unruhe" in kulturwissenschaftliche Forschungen zu bringen, in denen im Zeichen des linguistic turn und des Radikalen Konstruktivismus von Wirklichkeit nicht mehr die Rede war. Allerdings stammte die Wendung "Kulturen der Evidenz" aus Schriften des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. In diesem Kontext bezeichnete sie keineswegs eine Neigung zur Ontologie, sondern Wissenspraktiken des 19. Jahrhunderts, in denen die Herstellung von Evidenz technischen Geräten wie dem Fotoapparat anvertraut worden war.
An den in diesem Reader versammelten Beiträgen lässt sich das Abenteuer des Nachdenkens über Evidenz in den letzten zwei Jahrzehnten nachzeichnen. Dieses Nachdenken verfolgt einen mit großer ontologischer wie epistemologischer Fallhöhe verbundenen, insofern wahrhaft schwindelerregenden Parcours; es schwankt zwischen flüchtiger Gewissheit und anhaltender Skepsis. Das Schwindelgefühl hat auch einen, wenn man so will, physiologischen Grund: Es rührt aus den Überforderungen des Sehsinns, im Zeichen der Evidenz seine Vorherrschaft auch auf Gebieten der "unsichtbaren Weite des Seins" aufrechtzuerhalten.
Schon 1980 hatte Michel de Certeau festgestellt, dass die Gesellschaft einer "Wucherung des Sehens" unterliege. Sie bewerte "jede Realität nach ihrem Vermögen, sich zur Schau zu stellen". Der sozio-kulturelle "Schauplatz" der Gegenwart lasse das alte Postulat von der Unsichtbarkeit des Realen nicht zu.
Eine der großen Leistungen der Kulturwissenschaften hat darin bestanden und besteht immer noch darin, zu untersuchen, welche sprachlichen und visuellen Konstruktionselemente die "Effekte des Realen" erzeugen, wie Wirklichkeiten durch routinierte oder unerwartete Techniken einer - sei es aus sich heraus leuchtenden (evidentia), sei es als bloß scheinhaft eingestuften - Offenkundigkeit produziert werden. Darüber gerieten das "große Schweigen der Dinge", ihr Eigensinn und ihre Widerständigkeit in Vergessenheit. Einige Beiträge dieses Bandes zeigen, wie schwierig es ist, das Augenmerk auf die Unverfügbarkeit der Dinge zu lenken. Andere sprechen von der "Mystik", in der wir Dinge, die durch kein Medium geprägt scheinen, erfahren; für Dritte wiederum ist jede Wahrnehmung durch das Vermögen der Sprache gezeichnet, den "Sinn" der Dinge zu generieren. So leuchtet unser Band das Spannungsfeld aus, in dem auch künftige Diskussionen sich werden positionieren müssen.
Das Buch wird von uns als "Reader" bezeichnet, weil auch einige bereits andernorts publizierte Beiträge in leicht aktualisierter Form wieder abgedruckt wurden. Eine Begrenzung unseres Unternehmens liegt darin, dass nur deutschsprachige Abhandlungen aufgenommen wurden und dass das Problem der Evidenz in Naturwissenschaften und Rechtspraxis ausgespart bleibt. Einen nach wie vor nützlichen Überblick über die Diskussion des Evidenz-Problems in angelsächsischen Wissenschaften bietet der Band Questions of Evidence, der 1994 in Chicago herauskam. Die ausführliche Bibliografie am Ende dieses Bandes wird allen Lesern, die das Problem der Evidenz in größerem Rahmen verfolgen wollen, nützlich sein.

Situation der Theorie

Das Mysterium des Realen in der Moderne

Albrecht Koschorke

Anlässe zur Nachjustierung des Wirklichkeitssinnes

Der Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 löste - neben anderen, weit gravierenderen Folgen - in Kreisen westlicher Intellektuellen eine bestürzte Nachdenklichkeit darüber aus, ob man mit der postmodernen Rede, die Realität habe sich in massenmedialer Simulation aufgelöst, nicht zu weit gegangen sei. Der Schock von 9/11 ließ "die konstruktivistischen Medientheorien" im Rückblick als "fahrlässiges Manöver" einer Spaßgesellschaft erscheinen, und unter Sozialwissenschaftlern kam es zu einem "reawakening to the recalcitrance of facts". Nun hätte man sich nicht erst durch die Zerstörung der New Yorker Bürotürme daran erinnern lassen müssen, dass es reale Gewalt in der Welt gibt. Dessen ungeachtet bewirkte die Terrorattacke so etwas wie eine spontane Massenkonversion im Feld der Theorie, wobei den avancierten Theorie­richtungen der Postmoderne, Konstruktivismus und Dekonstruktion, unterstellt wurde, sich als Handreichungen zum Wirklichkeitsverlust angeboten zu haben.
Eine ähnliche Reaktion, wenngleich unter veränderten Vorzeichen, stellte sich nach dem Bankencrash des Jahres 2008 ein. Hier waren es allerdings nicht die Vordenker der Postmoderne, die angeblich der Wirklichkeit den Boden unter den Füßen wegspekuliert hatten, sondern eine Gruppe von global vernetzten Algorithmikern und Finanzspezialisten. Zu den bitteren ökonomischen Konsequenzen, die sich aus dem nur um Haaresbreite vermiedenen Totalzusammenbruch der Finanzmärkte gerade für die schwächeren Staaten und Bevölkerungsgruppen ergaben, gesellte sich ein Derealisierungsschock eigener Art. Als ob man es nicht auch schon zuvor hätte wissen können, schien erstmalig ins öffentliche Bewusstsein zu treten, aus welchen rein virtuellen, in Art und Umfang schwindelerregenden Transaktionen das Weltfinanzsystem besteht - mit dem ironischen Effekt, dass die zuvor oft geschmähte kapitalistische Warenökonomie nun als "Realwirtschaft" zum schützenswerten Gut und nostalgischen Maß aller Dinge verklärt wurde.
Beiden Krisenmomenten folgte trotz aller Unterschiede dasselbe kulturelle Reaktionsmuster: der Appell zu einem erneuerten Realismus, zu einer Rückbesinnung auf das unbezweifelbar Wirkliche und dessen angemessene Manifestation, sowohl im kognitiven als auch im normativ-moralischen Sinn. In einer nochmals ganz anderen Weise wurde auch dem Terroranschlag auf die Redaktion der Pariser Satirezeitschrift Charlie Hebdo umgehend eine ontologische Dimension zugesprochen. Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp sah sich durch dieses Ereignis dazu veranlasst, an die Gebildeten unter den Europäer zu appellieren, sich zu einem bildkulturellen clash of civilizations zu rüsten. Durch den Mord an Zeichnern, die Karikaturen des Propheten veröffentlichten, so äußerte sich Bredekamp in einem SZ-Interview, sei "Europa im Kern seines Selbstverständnisses getroffen". Eine neue Zeit des Wagemuts und des Opfergeistes sei angebrochen, um "die große, in langen Kämpfen erstrittene Errungenschaft der abendländischen Kultur" zu verteidigen: die Unterscheidung "zwischen Bild und Gott, Bild und Körper". Wer Bilder als Gotteslästerungen ansehe und deshalb ihre Urheber ermorde, greife nicht nur die Meinungs- und Religionsfreiheit an, sondern weigere sich, die für die westliche Bildkultur grundlegende Ablösung des Wesens von seinem Abbild, anders formuliert: den Hiatus zwischen Bild und Präsenz, mitzuvollziehen. - Hier ist es also nicht der Mangel, sondern ein Zuviel des Realen, das in Alarmbereitschaft versetzt.
Aus diesen Beispielen, denen unzählige andere hinzugefügt werden könnten, geht zweierlei hervor. Erstens erweist sich die Frage, wie Zeichen und Bezeichnetes im gesellschaftlichen Symbolraum zusammenhängen, ob und wann sie eine enge Verbindung eingehen - mithin die Frage der Evidenz -, als ein in akuter Weise kulturell umstrittenes Terrain. Zweitens werfen die durch katastrophische Ereignisse reflexhaft ausgelösten Justierungen des Realitätssinns ein Licht darauf, dass die Gesellschaft, die sie vornimmt, ihrer Wirklichkeit nicht sicher ist. Sie mag sich, durch das Szenario eines Kampfes der Kulturen entlang scheinbar alter Frontlinien herausgefordert, noch so sehr in die Brust werfen und die in ihr eingebürgerte Sichtweise als eine exklusiv moderne, ja sogar abendländische Erkenntnisleistung ausflaggen: In ihren internen Verständigungen hadert sie mit der Ungeklärtheit und Instabilität ihres eigenen Weltbezugs. Während ihre Vordenker einerseits auf dem Abstand zwischen Bildern und Dingen bestehen, klagen sie andererseits im Register einer selbstzweiflerischen Kulturkritik darüber, dass durch eben diesen Abstand die Substanz der Dinge an ihre Bilder und Simulakren, an das immer dichtere und undurchsichtigere Geflecht ihrer kulturellen Repräsentanzen verloren gegangen sei.
Die Ungewissheit hinsichtlich eines irgendwo hinter dem Schirm herrschender Realitätskonventionen anzunehmenden Realen manifestiert sich auf unterschiedlichen Niveaus. Wenn plötzlich hereinbrechende Katastrophen realer wirken als alltägliche Begebenheiten, die innerhalb kognitiver Routinen zu verarbeiten sind, so mag das einem generellen psychologischen Mechanismus entsprechen, der das Ungewohnte intensiver als das Gewohnte wahrnehmen lässt. Komplizierter verhält es sich mit dem Eindruck von Unwirklichkeit, der sich häufig einstellt, wenn moderne Gesellschaften der Komplexität und Abstraktheit ihrer Funktionsbedingungen innewerden. In bestimmten Umbruchperioden, wie sie durch die Epoche der Aufklärung, später der Avantgarden und aktuell durch die digitale Revolution markiert sind, erzwingt die Entwertung bis dahin fest etablierter Realitätsbestände einen tiefgreifenden Wandel der kulturellen Apperzeption. Als kognitive Herausforderung ist das Problem der Evidenz indessen auch in ruhigeren Entwicklungsphasen präsent. Wann immer die Frage nach dem Realen oder seinen begrifflichen Äquivalenten sich stellt, erhält dieses Reale den Charakter einer widersprüchlich-zwiespältigen Schwellenfigur: Es drängt dazu, sich in den gegebenen kulturellen Zeichensystemen zu repräsentieren, ohne sich jemals in vollem Umfang in solche Repräsentationen bannen zu lassen. Einerseits erweckt es in seinem Begriff die Vorstellung von etwas Eigentlichem und Wesenhaftem, dessen man andererseits aber nur in entstellter, durch gesellschaftliche Konventionalisierungen entwirklichter Form habhaft zu werden vermag. In dieser Weise bildet es einen permanenten Unruheherd der gesellschaftlichen Semiose, der immer neue alltags- und kunstästhetische Ausgestaltungen stimuliert. Die konstitutive Nicht-Feststellbarkeit des Realen macht es überdies zu einem virulenten erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Problem.
So kommt es zu einer eigentümlichen Spaltung des epistemischen Feldes, in dem sich die kulturellen Selbstverständigungen abspielen. Während die Realität für ein spontanes Weltverhalten auf unproblematische Weise gegeben scheint, haben sich Dichter, Künstler, Philosophen und ihr Tun reflektierende Wissenschaftler mit Aussagen darüber, wie die Welt wirklich ist, notorisch schwer getan. Denn was sich in sprachlichen Repräsentationen oder wissenschaftlichen Experimentalanordnungen zeigt, ist schon nicht mehr das Reale als solches, sondern gefiltert durch den Eigensinn menschlicher Erfahrung, kultureller Zeichensysteme und technischer Apparate. Zwar ist gegen solche Filter nichts auszurichten, und niemand kann sich dauerhaft ins Abseits sozialer oder apparativer Wirklichkeitsregulierungen stellen. Dennoch bleibt damit ein Ungenügen verbunden, das in Situationen der Krise zum Bewusstsein gelangt. Mit dem paradoxen Resultat, dass eine Epoche, die ein historisch einmaliges Niveau an Naturbeherrschung und Realisationsmacht erreicht hat, in ihren Selbstbildern gleichwohl den Eindruck vermittelt, ihre Verankerung in der Welt draußen aufgegeben zu haben.
Das Dilemma des Konstruktivismus und seine Ursprünge bei Kant

Häufig wird dieses Defizit speziell der Postmoderne und ihren Theorieströmungen angelastet. Der Vorwurf trifft damit auch die Kulturwissenschaften, die viel über das Imaginäre und das Symbolische zu sagen wissen, aber durch das Reale - als drittes Register in der einflussreichen Systematik von Jacques Lacan - in eine eigentümliche Verlegenheit gebracht werden. Typografisch ist dies am Gebrauch von Anführungszeichen zu erkennen, wann immer die Wirklichkeit oder ihre Synonyme zur Sprache kommen; grammatikalisch an der Vorliebe für Pluralformen, die den Weltbezug auffächern und vervielfältigen; stilistisch an einer dominant skeptischen, antipathetischen Tonlage, sobald es um ontologische Behauptungen geht - das unvermeidliche Schlagwort heißt hier: Essentialismus-Verdacht. Andererseits scheint sich aber auch die kulturwissenschaftliche Programmatik ihrer selbst nicht ganz sicher zu sein, was sich an der Zunahme einschränkender Klauseln ablesen lässt, um den Bezug auf die wirkliche Wirklichkeit nicht ganz in imaginären Konstruktionen und gesellschaftlichen Symbolisierungen verschwinden zu lassen.
Paradoxerweise wurde das Problem, dem Realen einen Ort in der Theoriebildung der Kulturwissenschaften anzuweisen, durch deren Erfolg nicht gemindert, sondern verschärft. Als neue disziplinäre Formation seit den 1980er Jahren, stark geprägt durch poststrukturalistische Theorien, haben sie dem Konstruktivismus in seinen unterschiedlichen Spielarten zur Vormachtstellung verholfen. In der Folge des linguistic turn wurde die Aufmerksamkeit auf Effekte der Selbstreferenz von Texten und anderen Formen der kulturellen Symbolisierung gerichtet. Den in einer Kultur herrschenden diskursiven Ordnungen wurde die Macht eines Aprioris zuerkannt, das nicht nur die Wahrnehmungen, sondern die Objektwelt als solche strukturierte und damit in gewisser Weise erzeugte. So erschien am Ende jede Realitätsbehauptung als eine soziale bzw. kulturelle Konstruktion.
Je mehr diese Betrachtungsweise die Humanwissenschaften zu dominieren begann, desto deutlicher wurde jedoch, dass sie einseitig war. Gerade in den letzten Jahren verstärken sich deshalb die Bemühungen, Kategorien wie Wahrheit und Wirklichkeit wieder zu verbindlicher Geltung zu bringen und vor ihrer kulturellen Relativierung zu schützen. Auch innerhalb des kulturalistischen Mainstreams wird der Konstruktivismus, so fruchtbar er auf vielen Gebieten auch ist - von der Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie über die Ethnografie, die Politik- und Rechtswissenschaft bis hin zur Geschichte der Naturwissenschaften -, inzwischen auf fast schon rituelle Weise mit einem einschränkenden Ja, aber versehen. Zwar dürfe man, so lautet eine gängige Kompromissformel, nicht in einen naiven Abbildrealismus zurückfallen, doch sei die zeichenhafte Konstitution von Welt nicht willkürlich und müsse sich auf ein nachprüfbares Realitätssubstrat stützen, weil kollektive Wahnideen und Tatsachenfeststellungen, Ideologie und Wissenschaft sonst nicht mehr auseinanderzuhalten wären.
Doch ist das Dilemma, in das ein absolut gesetzter Konstruktivismus gerät, nicht einfach durch Kompromissformeln zu lösen. Wenn sich gegen die Einseitigkeit konstruktivistischer Ansätze ein erneuerter erkenntnistheoretischer Realismus formiert, dann ergibt sich insofern ein grundsätzliches Problem, als die konträren Perspektiven des Konstruktivismus und des Realismus/Naturalismus nicht ohne Weiteres miteinander vermittelbar sind und folglich nicht zu einem Ganzen aufaddiert werden können. Zwischen ihnen besteht vielmehr eine Art von Unschärferelation: Es ist schwer möglich, Diskurse im gleichen Maß einerseits als Systeme von referentiellen, d.h. objektabhängigen, Aussagen über die Welt aufzufassen und andererseits auf ihre kulturelle Eigenmächtigkeit hin zu beobachten. Die Einstellung des Blicks auf den konstruktiven, in die Welt intervenierenden Charakter von Zeichenprozessen und die Betonung ihrer Gebundenheit an eine vorauszusetzende Realität schließen sich ab einem bestimmten Grad logisch aus. Wer Vorgänge in der Natur als Fakten ansieht, die vom Menschen nicht beeinflusst werden können, wird den Verfahren ihrer kulturellen Symbolisierung nur ein Nebeninteresse einräumen. Wer dagegen die Evidenz von Naturgegebenheiten mit dem Argument anzweifelt, dass es sich dabei lediglich um einen Effekt innerhalb bestimmter Zeichenordnungen handle, wird die außersprachliche Referenz einer solchen Konstruktion in den Hintergrund treten lassen oder ganz suspendieren. Zwar ist die Rede von der fabrication of facts inzwischen gängige Münze in den Wissenschaftstheorien geworden; die Schwierigkeit liegt aber darin, dass die Berufung auf den einen Term - fabrication - die Bezugnahme auf den anderen Term - facts - undeutlich macht und umgekehrt.
Zudem kann das Problem der Entzogenheit des Realen nicht dadurch eingegrenzt und bagatellisiert werden, dass man es lediglich als eine Ausgeburt der Postmoderne mit ihren sich angeblich ins Beliebige auflösenden Sprachspielen betrachtet. Die Einsicht, dass die Welt dem Menschen allein kraft der schöpferischen Aktivität des Erkenntnisvorgangs, und das heißt zugleich: allein nach Maßgabe unhintergehbarer mentaler Präfigurationen, gegeben ist, hat eine sehr viel längere und respektablere Vorgeschichte. Es gibt gute Gründe dafür, ihre eigentliche Geburtsstunde, jedenfalls was die europäischen Denktraditionen betrifft, in Kants kritischer Wende in den 1780er Jahren zu sehen; Kants Transzendentalismus wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert durch Verweis auf die historischen, im 20. Jahrhundert auf die sprachlich-diskursiven Bedingungen der Möglichkeit von Wissen lediglich neu akzentuiert. Insofern hat die Aufklärung ein ambivalentes Erbe hinterlassen. Seither ist die europäische Moderne von einem Zwiespalt zwischen triumphalistischer Weltaneignung einerseits und andererseits der eher melancholischen Annahme geprägt, dass die solcherart angeeignete Welt immer schon durch menschliches Tun vorgeformt und deshalb in ihrem originären Sein verfehlt wird. Die unzweifelhaften wissenschaftlich-technischen Errungenschaften der vergangenen zwei Jahrhunderte, die nicht zuletzt zur Hervorbringung einer gänzlich neuen materialen Weltsphäre führen, werden kontrapunktisch von Sprach-, Bewusstseins- und Repräsentationskrisen begleitet, ja treiben diese aus sich hervor. Auch in den geschichtsphilosophischen Selbsterzählungen der Moderne findet sich deren Fortschrittszuversicht durch eine variantenreiche Entfremdungslehre konterkariert, die in sentimentalischer Manier den Verlust eines unverstellten Bezugs zur Ursprünglichkeit des Daseins betrauert. Dieser Zwiespalt hat sich, bisher jedenfalls, als unüberwindlich erwiesen und scheint geradezu - in Abwandlung von Lyotard - die condition moderne auszumachen. Als solche ist sie ein kulturwissenschaftlicher Tatbestand und verdient eine nähere Analyse, statt, wie es zuweilen geschieht, als Scheinproblem von der Tagesordnung genommen zu werden.

Der neue Realismus ist auch keine Lösung

Gegenüber der Vorherrschaft poststrukturalistischer Theorien in den zurückliegenden Jahrzehnten zeichnet sich inzwischen eine klare Trendumkehr ab, in deren Folge die aus dem linguistic turn erwachsenen sprachanalytischen und konstruktivistischen Ansätze verabschiedet und durch einen neuen Realismus, ja sogar eine neue Ontologie ersetzt werden. Dies geht mit einer zuweilen heftigen Polemik gegen die Kulturwissenschaften einher, die sich, wie etwa bei Paul Boghossian, nach Art der science wars der 1990er Jahre in die Nähe des Obskurantismus gerückt finden.
Bemerkenswerter jedoch ist die Tatsache, dass der Neorealismus oder auch Spekulative Realismus, der seit einiger Zeit öffentlichkeitswirksame Akzente setzt, auf nichts Geringeres als eine Generalrevision der in der Moderne dominanten Erkenntnislehren abzielt. Seinen Vertretern reicht es nicht, Korrekturbedarf gegenüber postmodernen Erkenntnis-, Zeichen- und Sprachtheorien anzumelden. Sie nehmen mehr oder weniger die gesamte Philosophie der Moderne ins Visier. So geht Graham Harman, der Begründer der sogenannten object-oriented ontology, zwar von Heideggers Begriffen des Werkzeugs und der Zuhandenheit aus, überschreitet dann aber den Bezugsrahmen der heideggerschen Seinsphilosophie, die er der Redundanz und mangelnden Konkretheit bezichtigt, in Richtung auf eine sichvom Menschen ablösende Ontologie von Beziehungen zu und zwischen Objekten. Der wahre Stein des Anstoßes für Autoren, die sich der Strömung des spekulativen Realismus zurechnen lassen, ist aber Kant, dem das Schicksal widerfährt, rückwirkend zum Stammvater der Konstruktivismen des 20. Jahrhunderts ernannt zu werden. Das wird besonders deutlich in dem prägnanten Problemaufriss von Quentin Meillassoux, der Kant vorhält, statt einer kopernikanischen in Wahrheit eine "ptolemäische Konterrevolution" veranstaltet zu haben, "da es ihm ja nicht darum geht, zu behaupten, dass der Beobachter, den man unbeweglich glaubte, in Wirklichkeit um die Sonne kreist, sondern dass umgekehrt das Subjekt im Zentrum des Erkenntnisprozesses steht". Seit Kant habe sich in einem erneuerten Anthropozentrismus der Gegenstand nach den Bedingungen des menschlichen Erkenntnisapparats richten müssen, mit der Folge, "dass wir nichts erkennen können, was jenseits unserer Beziehung zur Welt ist" - eine theoretische Haltung, die Meillassoux Korrelationismus nennt und als Irrweg praktisch aller nachkantischen Philosophien geißelt. Trotz philosophischer Rettungsbemühungen sei auf diese Weise die Sphäre der Dinge an sich unbegreiflich geworden; überdies habe sich die Philosophie der Möglichkeit beraubt, Aussagen über die Welt vor der Entstehung des menschlichen Bewusstseins metaphysisch zu beglaubigen. Meillassoux zufolge muss man deshalb an das vorkantische Denken anknüpfen und sogar die Theorie der primären, d.h. den Dingen selbst zugehörigen, und der sekundären, ihnen von den Menschen bloß zugeschriebenen Qualitäten wiederbeleben, um in einer cartesianischen Volte "alles, was vom Gegenstand in mathematischen Begriffen ausgesagt werden kann, als Eigenschaften des Gegenstandes an sich zu denken". Die Rehabilitation der Metaphysik, die sich bei Meillassoux allerdings mit einem radikalen Denken der Kontingenz verbindet, greift hier sogar, über die Epoche der Moderne hinweg, auf Denkformen der Frühen Neuzeit zurück.

Inhalt

Inhalt
Vorwort...9
Helmut Lethen
Situation der Theorie
Das Mysterium des Realen in der Moderne ...13
Albrecht Koschorke
Semantische Evidenz. Evidenzverfahren in der kulturellen Semantik ...39
Ludwig Jäger
Ethnografische Evidenz  »No scholar should find humiliating the task of description.« ...63
Marcus Twellmann
Rhetorik der Evidenz
Manifest gegen die Evidenz. Tastsinn und Gewissheit bei Lukrez ...85
Jakob Moser
Vor Augen Stellen. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung ...106
Rüdiger Campe
Die Kürze des Faktums. Textökonomien des Wirklichen um 1800 ...137
Juliane Vogel
Die Wirklichkeit der Medien
Die Wirklichkeit der Medien. Evidenzen in W. G. Sebalds Die Ringe des Saturn ...155
Inka Mülder-Bach
Vom Schein, der übrig bleibt. Bild-Evidenz und ihre Kritik ...181
Peter Geimer
Gefährliche Nähe. Zehn Anmerkungen zum Tastsinn ...219
Niklaus Largier
Über die These vom Eingriff der Medien in die Wahrnehmung ...235
Florian Sprenger
Praktiken der Evidenz-Herstellung
Evidentia und Medialität. Zur Ausdifferenzierung von Evidenz in der Frühen Neuzeit ...261
Jan-Dirk Müller
Trügerische Evidenz. Bilder als Schauplatz philosophischer Auseinandersetzungen ...290
Claus Zittel
»Schauplatz«/»Theatrum«. Heterotopien des Wissens in der Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts ...326
Thomas Forrer
Schlagende Evidenz und aufblitzendes Bild. Meditation über Benjamins Liquidierung der historischen Wissenschaft ...353
Egon Flaig
Ökonomien der Sichtbarkeit
Kurven und andere Evidenzen: zur Visualisierung der »unsichtbaren Hand« des Marktes ...373
Jakob Tanner
Transparenz als Verschleierungsritual. Niklas Luhmanns Aktualität in der Finanzkrise ...394
Caspar Hirschi
Bibliografie ...404
Abbildungsnachweis ...427
Autorinnen und Autoren ...429

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