Beschreibung
Leben für AllahFromme Muslime, so steht es in einem Koranvers, sind "Gott näher als der eigenen Halsschlagader". Sie widmen sich in besonderem Maß ihrer Religion, verstehen das Diesseits nur als Übergangsstadium zum ewigen Leben im Paradies und versuchen die Gebote Gottes im Alltag einzuhalten. Über dieses konservative Segment des deutschen Islams, das oft als fundamentalistisch eingestuft wird, existiert nahezu kein verlässliches Wissen.Susanne Schröter hat drei Jahre lang in Wiesbadener Moscheegemeinschaften geforscht und gibt in diesem Buch einen einmaligen Einblick in das Leben und die Gedankenwelten streng gläubiger Muslime. Darüber hinaus zeigt sie, mit welchen Programmen eine ganznormale deutsche Stadt sich seit Jahrzehnten um Integration bemüht.
Autorenportrait
Susanne Schröter ist Professorin für Ethnologie an der Goethe-Universität Frankfurt und Direktorin des dortigen Forschungszentrums Globaler Islam. Für ihr Buch hat sie von 2011 bis 2015 in Wiesbaden mit 130 Muslimen sowie mit Verantwortlichen aus Politik, Schulen, Jugendarbeit, Kirchen, Polizei und Verwaltung gesprochen.
Leseprobe
Vorwort
"Ihr Menschen!
Siehe, wir [] machten euch zu Völkern und Stämmen,
damit ihr einander kennenlernt."
Koran (Sure 49 Vers 13)
Dieses Buch handelt von frommen Muslimen in einer deutschen Mittelstadt, von Menschen, denen "Gott näher ist als ihre eigene Halsschlagader", wie es im Koran heißt. Seine Fertigstellung fällt in eine Zeit, in der zahllose Menschen vor der Gewalt islamischer Extremisten aus ihrer Heimat fliehen, vor den "Gotteskriegern", die unter der Flagge des "Islamischen Staats" entsetzliche Gräueltaten vor allem in Syrien, Afghanistan und dem Irak verüben und auch Europa mit Terror konfrontieren. Angesichts dieser Entwicklung wird der Islam von vielen Nichtmuslimen mit Gewalt und Rechtlosigkeit assoziiert. Vorbehalte gegenüber dem Islam und den Muslimen oder gar Islamfeindlichkeit waren in Deutschland allerdings schon vor dem Auftreten des "IS" und der Berichterstattung darüber weit verbreitet und muss als eines von vielen Hindernissen beim Aufbau einer multikulturellen Gesellschaft bezeichnet werden.
Islamfeindlichkeit resultiert unter anderem aus einem Mangel an Wissen. Zwar sprechen Viele über den Islam, aber Wenige mit einem substanziellen Hintergrund. 67 Prozent der von der Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan im Jahr 2013 befragten deutschen Bürger schätzten die eigenen diesbezüglichen Kenntnisse als gering ein.1 So verwundert es nicht, dass die obskure Gruppe PEGIDA ("Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes") sich ausgerechnet in Dresden zusammenfand, einer Stadt, in der man sich schon Mühe geben muss, um überhaupt auf einen Muslim zu treffen.
Mit diesem Buch hoffe ich, Wissenslücken zu schließen und dadurch verzerrten Vorstellungen über "den" Islam entgegenzuwirken. Ich zeige verschiedene Varianten eines gelebten Islam in einer gewöhnlichen deutschen Stadt und stelle Muslime in der Vielfalt ihrer Identitäten, Wertvorstellungen und Lebensstile vor. Die Forschung wurde in Wiesbaden durchgeführt, einer unspektakulären Kommune, in der Muslime seit mehr als fünfzig Jahren zu Hause sind und den Alltag mitprägen. Die frommen unter ihnen, diejenigen, die ihre Zeit in besonderem Maß der Religion widmen, organisieren sich in 15 Moscheegemeinschaften und sufistischen Orden.2 Diese Menschen stehen im Mittelpunkt meines Buches. Ich schreibe nicht über sogenannte "Kulturmuslime", über Menschen, die zwar an Gott und seinen Propheten glauben, es aber mit den islamischen Pflichten nicht so genau nehmen. Mich interessieren hier ausschließlich die "religiösen Muslime", diejenigen, die die Religion ins Zentrum ihres Daseins rücken und versuchen, ihr Leben in Einklang mit den Gesetzen Gottes zu bringen oder eine besondere spirituelle Beziehung zu Allah anstreben. Über dieses konservativ-fromme Segment des deutschen Islam ist nur wenig bekannt. Es gibt zwar unzählige Studien, in denen mithilfe sozialwissenschaftlicher Verfahren Einstellungen, Bildungsgrad und ökonomische Potenz abgefragt wurden, doch hinter diesen Daten werden Menschen selten sichtbar. So bringen herkömmliche quantitative Methoden und standardisierte Fragebögen zwar verallgemeinerbare Daten hervor, diese Daten sind aber zwangsläufig unterkomplex und simplifizierend. Kurz gesagt: Die Gefahr besteht, dass Stereotype abgefragt werden.
Als Ethnologin gewinne ich Daten dagegen nicht aus dem Studium von Texten oder mithilfe von vorgefertigten Fragebögen, sondern durch "teilnehmende Beobachtung"3 von Ereignissen und verschiedene Gesprächtechniken. Ich will verstehen, wie der oder die Andere denkt und fühlt, in welche Kategorien er oder sie die Welt einteilt und nach welchen Prämissen er oder sie handelt. Ethnologen versuchen sich in ihr Gegenüber hineinzuversezen und seinen Standpunkt gewissermaßen von Innen zu sehen. Dieses Herangehen braucht Zeit. Man baut Beziehungen auf, folgt Ereignissen und entdeckt unentwegt Neues. Je länger man in einem Projekt forscht, desto tiefer wird das Verständnis, was es nicht selten schwer macht, einen Schlussstrich zu ziehen.
Die Wiesbadener Forschung war ursprünglich auf zwei Jahre angelegt, erstreckte sich dann aber auf einen Zeitraum von Oktober 2011 bis September 2014; einzelne Interviews folgten sogar noch bis Juli 2015. Ich habe, meist in Begleitung meines Mitarbeiters Oliver Bertrand, formelle und informelle Gespräche mit 137 Personen aus muslimischen Gemeinschaften geführt. Wir haben mit unseren Dialogpartnern- und partnerinnen zusammen gegessen und getrunken, über Religion und Politik diskutiert, alltägliche Probleme erörtert und Lebensgeschichten ausgetauscht. Wir wurden zu Festen, Gebeten und Aktivitäten im Rahmen des Ramadan eingeladen, haben an Diskussionsveranstaltungen, Treffen des "Arbeitskreises Islamischer Gemeinden in Wiesbaden" sowie Sitzungen städtischer Einrichtungen teilgenommen und haben uns zu zweit, zu dritt oder in kleinen Gruppen privat getroffen. Dazu kamen Interviews mit Angehörigen des Amtes für Integration, der Polizei und des Verfassungsschutzes, mit Schulleiterinnen und Lehrern, Pfarrern sowie der Leiterin der Justizvollzugsanstalt.
Die Mitglieder der Wiesbadener Gemeinden hatten es selbst in der Hand zu bestimmen, welchen Part sie in dem Projekt spielen würden, ob die Gespräche eher förmlich oder offen verlaufen sollten, ob sich engere, vielleicht sogar freundschaftliche Beziehungen ergeben würden oder es nur bei einer einzigen Begegnung bleiben sollte. Wo die Kontakte unkompliziert waren, wo wir Gesprächspartner fanden, die Lust hatten, über dieses und jenes zu plaudern, kamen schnell Informationen zusammen, die ich in diesem Buch festgehalten habe. Wo die äußeren Umstände gerade ungünstig waren oder man uns reserviert gegenüberstand, ist dies nicht geschehen. Deshalb werden einige Gemeinschaften ausführlicher erwähnt als andere. Ich habe große Herzlichkeit und Offenheit erlebt, aber auch Misstrauen und Ablehnung. Einige meiner Gesprächspartner hatten Angst, ich könnte das Gehörte missbrauchen, um Muslime zu diskreditieren, andere hofften, ich würde die herrschenden Vorurteile widerlegen.
Alle Personen, die in diesem Buch zu Wort kommen, sind fromm und verstehen sich im religiösen Sinne als konservativ. Dennoch kommen sie in den tagtäglichen Auseinandersetzungen mit ihrer Religion zu unterschiedlichen Schlüssen, praktizieren einen unterschiedlichen Alltag und entwickeln unterschiedliche Vorstellungen für ihre Zukunft. Einige von ihnen träumen von einer Gesellschaft, die dem idealisierten Vorbild Medinas im 7. Jahrhundert ähnlich ist, andere sind glühende Verfechter des deutschen Rechtsstaates, manche versuchen, beides miteinander zu vereinbaren.
Das Buch beginnt einleitend (Teil I) mit der öffentlichen Debatte über den Islam in Deutschland, die bereits zur Zeit Goethes von widerstreitenden Projektionen geprägt war und einerseits zu schwärmerischer Orientbegeisterung, andererseits zu rassistischer Abwehr führte. Diese Polarisierung ist auch heute noch virulent, wenngleich sie von vielen kritisch reflektiert wird. Der zentrale zwei Teil (II) führt die Vielfalt muslimischen Lebens in Wiesbaden vor Augen, unterteilt nach Gemeinschaften, in denen jeweils eigene Vorstellungen von Islam entwickelt werden, und nach Personen, die mir ihre Geschichte, ihre Erfahrungen und ihre Perspektive auf Religion erzählten. Ich habe den narrativen Charakter der Gespräche beibehalten und erzähle Begebenheiten, die mir selbst bedeutsam erscheinen. Es geht darin unter anderem um die Überwindung des eigenen Egos, das man wie einen Esel bändigen und als Reittier verwenden kann, um zu Gott zu gelangen; um die Erwartung junger Männer, im Paradies die Gewinner zu sein, wenn sie im Diesseits den Befehlen Allahs gehorchen: um das alltägliche Wirken von Geistern und dem Teufel; um Frauen, die den Propheten Mohammed als ersten Feministen der Weltgeschichte zeichnen, um ihren Ehemännern die Hausarbeit schmackhaft zu machen; und um Gründe für arrangierte Ehen unter Verwandten. Da ich nicht nur Gespräche geführt, sondern auch an religiösen Aktivitäten teilgenommen habe, kommt auch die Poesie islamischer Rituale in den Blick. Das Dabeisein in den Moscheen oder an anderen Orten, an denen gebetet wurde, hat mir eine Dimension des muslimischen Glaubens erschlossen, die mich sehr berührt und zum Verständnis ebenso beigetragen hat wie die intellektuelle Reflexion über islamische Normen und Werte.
In Teil III diskutiere ich schließlich Probleme der multikulturellen Stadtgesellschaft, die Muslime in besonderer Weise betreffen, sowie Ansätze von Problemlösungen. Dazu zählen die Bildungs- und Jugendarbeit, Fragen der Geschlechterordnung und das Verhältnis von frommen Muslimen zu radikalen Ideologien und Gewalt. Es geht in diesem Teil auch um die Schwierigkeiten der Extremismusprävention und um Initiativen, mit Hilfe derer Mitglieder von Moscheegemeinden, muslimische Aktivisten und andere Akteure der Zivilgesellschaft das Zusammenleben innerhalb der Kommune konstruktiv zu gestalten versuchen. Wiesbaden steht dabei exemplarisch für viele andere Städte der Bundesrepublik Deutschland, in denen die gleichen Herausforderungen bewältigt werden müssen.
Dank
Ethnologische Forschung findet nicht am heimischen Schreibtisch oder im universitären Elfenbeinturm statt. Sie basiert auf Gesprächen und Erlebnissen mit Menschen, die sich bereit erklären, Einblicke in ihr Leben zu gewähren und ihre Gedanken mit der Forscherin zu teilen. Ich hatte das große Glück, dass viele Wiesbadener und Wiesbadenerinnen mein Projekt unterstützten, mir als Interviewpartner zur Verfügung standen, mich an ihrem Alltag teilhaben ließen oder mir Kontakte vermittelten. Dies betrifft an erster Stelle die Vorstände und Mitglieder der Moscheegemeinschaften und sufistischen Orden, die mir ihre Zeit gewidmet haben. Um ihre Identität zu schützen, habe ich sie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, anonymisiert. Wenn Personen ausschließlich in ihrer Eigenschaft als Funktionsträger, Amtsinhaber oder Experten sprechen, habe ich ihre tatsächlichen Namen beibehalten. Ihnen allen gebührt mein herzlicher Dank. Ich danke außerdem den Fachleuten aus kommunalen Einrichtungen, den Mitarbeitern des Verfassungsschutzes und der Leiterin der JVA, die mir mit ihrem Wissen neue Perspektiven und mit ihren Kontakten neue Möglichkeiten eröffneten. Namentlich möchte ich an dieser Stelle nur zwei Personen erwähnen, die für das Gelingen meines Projektes von besonderer Bedeutung waren. An erster Stelle ist dies Rose-Lore Scholz, die Dezernentin für Kultur, Bildung und Integration, die mir Türen und Tore in den städtischen Einrichtungen geöffnet und mein Projekt in jeder Hinsicht gefördert hat. Mein Dank gebührt außerdem Janine Rudolph, der Leiterin des Integrationsamtes, die mich in viele ihrer Aktivitäten einbezog und mir eine wertvolle Lotsin durch den kommunalen Integrationsdschungel war. Ganz besonders möchte ich auch meinem Mitarbeiter Oliver Bertrand danken, der mich bei etlichen Interviews begleitet hat, bereit war, zu den unmöglichsten Tages- und Nachtzeiten schwierige Fragen zu diskutieren und immer den Überblick behielt. Ohne ihn wäre diese Forschung nicht möglich gewesen.
Institutionell ist das Projekt "Fromme Muslime in Wiesbaden" im Exzellenzcluster "Die Herausbildung normativer Ordnungen" an der Goethe-Universität Frankfurt verortet; die Lektoratsarbeiten wurden von Dr.?Sabine Lang durchgeführt. Auch ihnen sei ganz herzlich gedankt.
Teil I
Muslime in Deutschland: Zwischen Stigmatisierung und Anerkennung
"Wer sich selbst und andre kennt,
wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
Sind nicht mehr zu trennen."
Goethe, West-östlicher Divan
Muslime stellen in Wiesbaden wie auch in anderen deutschen Städten eine Bevölkerungsgruppe dar, die in der Öffentlichkeit konträre und zum Teil sehr heftige Reaktionen auslöst. Für die einen sind sie ungeliebte Fremde und Anhänger einer in vielfacher Hinsicht unter Verdacht stehenden Religion, für die anderen eine diskriminierte Minderheit, deren Leben durch Vorurteile und islamophobe Ausgrenzungen schwer gemacht wird. Beide Positionen werden gewöhnlich generalisiert, verabsolutiert und zum Indikator für den Zustand der Einwanderungsgesellschaft gemacht. Der jeweiligen Positionierung entsprechend ist diese dann entweder in einem Zustand multikultureller Selbstzerstörung begriffen oder in einem ungebrochenen, auf den Nationalsozialismus zurückgehenden Rassismus gefangen. In diesem einleitenden Kapitel soll die Debatte schlaglichtartig nachgezeichnet, aber auch darauf hingewiesen werden, dass es vielfältige Ansätze gab und gibt, welche die simplen Dichotomien überschreiten und einem alltagstauglichen und weniger symbolgeladenen Verhältnis zwischen Muslimen und Nichtmuslimen den Weg weisen.
1.Gehört der Islam zu Deutschland?
Wie das Christentum und das Judentum, erklärte der ehemalige deutsche Bundespräsident Christian Wulff im Oktober 2010 in seiner Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit, gehöre mittlerweile auch der Islam zu Deutschland. Wohl wissend, dass ein solches Bekenntnis in seiner eigenen Partei nicht auf ungeteilte Zustimmung stoßen würde, fügte er hinzu, dass zweihundert Jahre zuvor bereits Johann Wolfgang von Goethe auf dem Höhepunkt seines Ruhmes eine ähnliche Auffassung vertreten habe. In seinem West-östlichen Divan, so Wulff, habe der Dichter geschrieben: "Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen: Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen." Sich selbst auf die Schultern eines Riesen zu stellen ist ein probates Mittel für diejenigen, die bei waghalsigem Vorpreschen mächtige Unterstützung suchen. Die Reminiszenz an Goethe sollte Wulff allerdings wenig nützen, denn schon wurden im konservativ-christlichen Lager der deutschen Politik die Messer gewetzt, und man holte zum Gegenschlag gegen den kühnen Dissidenten aus. Im März 2011 war es so weit, und der neu gekürte deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich, pikanterweise von Amts wegen auch Schirmherr der Deutschen Islamkonferenz, polterte: "Dass der Islam Teil unserer Kultur ist, unterschreibe ich nicht. Um das klar zu sagen: Die Leitkultur in Deutschland ist die christlich-jüdisch-abendländische Kultur. Sie ist nicht die islamische und wird es auch nicht in Zukunft sein."
Ähnlich sah dies im April 2012 Volker Kauder, damals Fraktionsvorsitzender der CDU. Der Passauer Neuen Presse gegenüber ließ er verlautbaren: "Der Islam ist nicht Teil unserer Tradition und Identität in Deutschland und gehört somit nicht zu Deutschland. Muslime gehören aber sehr wohl zu Deutschland. Sie genießen selbstverständlich als Staatsbürger die vollen Rechte." Wer jetzt vorschnell glaubte, in den gebetsmühlenhaften Bekundungen zu einer jüdisch-christlichen Kollektividentität eine typische konservative Position ausmachen zu können, musste sich enttäuscht sehen, als sich auch Wulffs Nachfolger Joachim Gauck, ein ehemaliger protestantischer Pfarrer, der sich in der Bürgerbewegung der DDR große Verdienste erworben hatte und von der SPD und den Grünen für das Amt des Bundespräsidenten vorgeschlagen worden war, vom Vorstoß seines Vorgängers distanzierte. "Ich hätte einfach gesagt, die Muslime, die hier leben, gehören zu Deutschland", sagte er gegenüber der Presse und vollzog damit einen unbeabsichtigten Schulterschluss mit Kauder.
Drei Jahre später wurde die Debatte noch einmal durch eine Wiederholung der Wulffschen Aussage durch die Bundeskanzlerin befeuert. Sie hatte sich nach dem verheerenden Anschlag auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo demonstrativ vor die deutschen Muslime gestellt und anlässlich des Besuchs des türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu bekundet: "Von meiner Seite möchte ich sagen, dass unser früherer Bundespräsident Christian Wulff gesagt hat, der Islam gehört zu Deutschland. Und das ist so, dieser Meinung bin ich auch." Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich konterte prompt: "Ich teile diese Auffassung nicht. Muslime sind in Deutschland willkommen und können ihre Religion ausüben. Das bedeutet aber nicht, dass der Islam zu Sachsen gehört." Auch die Junge Union machte Front gegen die Kanzlerin. Ihr Vorsitzender Paul Ziemiak ließ der Presse gegenüber verlautbaren: "Die Wurzeln unseres Landes sind von der christlich-jüdischen Tradition geprägt, nicht durch den Islam."
Die Äußerungen dieser Repräsentanten der Bundesrepublik machen deutlich, dass sich deutsche Politiker mit ihren muslimischen Mitbürgern schwertun. Während die einen sich zu einer demonstrativen Geste des Handreichens gegenüber der seit mehr als fünfzig Jahre in Deutschland lebenden religiösen Minderheit herausgefordert sehen und sich darin gefallen, starke Bekenntnisse zu Pluralität und Diversität abzugeben, sind andere offensichtlich nach wie vor befremdet von der neuen öffentlichen Präsenz der Muslime.
2.Orientschwärmereien
Dabei war der Islam in der jüngeren deutschen Geschichte keinesfalls eindeutig negativ konnotiert. Zwar lässt sich die lange Geschichte von Kriegen zwischen Muslimen und Christen - die Kreuzzüge vom 11. bis zum 13. Jahrhundert, die Eroberungen und Wiedereroberungen Spaniens vom 8. bis zum 15. Jahrhundert und die Kriege des Osmanischen Reiches mit einer Allianz europäischer Machte im 16. und 17. Jahrhundert - nicht leugnen, doch nach der erfolglosen zweiten Belagerung Wiens im Jahr 1683 entspannte sich die Situation. Der für seine Toleranz bekannte Preußenkönig Friedrich II. verkündete, auch Muslime seien als Neuansiedler in seinem Land willkommen, und versprach, ihnen Moscheen zu bauen wie den Christen Kirchen. Seit 1741 dienten polnische und bosniakische Muslime in der preußischen Armee, und für das Jahr 1760 ist sogar ein deutscher Heeres-Imam verbürgt. Die muslimisch geprägten Kulturen des sogenannten Morgenlandes faszinierten viele christlichen Europäer, und ab dem 18. Jahrhundert lässt sich eine regelrechte Orientschwärmerei beobachten, die, wie der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze treffend formulierte, "von einem allgemeinen exotischen Verlangen des Bürgertums und der Fürstenhöfe getragen wurde" (Schulze 2005: 756). Für das neue positive Orientbild sorgte nicht zuletzt der von Wulff in seiner Rede erwähnte Johann Wolfgang von Goethe, der sich in seinen späten Jahren für orientalische Poesie, den Koran und insbesondere für die Schriften des persischen Dichters Hafis begeisterte, den er als seinen Bruder im Geiste bezeichnete. Im Jahr 1814 begann Goethe Hafis zu lesen, und aus dieser Inspiration heraus entstand ein Zyklus von lyrischen Versen und wissenschaftlichen Betrachtungen, der 1819 als der West-östliche Divan publiziert wurde und bis auf den heutigen Tag Gerüchte nährt, der große deutsche Dichter sei am Ende seines Lebens zum Islam konvertiert.
Wenngleich Goethes Divan sicherlich eine Zäsur der Beziehungen deutscher Denker zum Orient darstellte, war das Interesse an arabischer, türkischer und persischer Literatur, an den Quelltexten des Islam und auch an orientalischer Kultur weitaus älter als Goethes Gedichtsammlung. Einer der Pioniere, die sich in Deutschland wissenschaftlich damit befassten, war der in klassischer Philologie gebildete württembergische Theologe Salomon Schweigger (1551-1622), der 1576 als Teil der österreichischen Gesandtschaft nach Konstantinopel übersiedelte, dort mehrere Jahre lebte und im Jahr 1581 eine Reise nach Jerusalem und Bagdad unternahm. Seine Beobachtungen und theologischen Auseinandersetzungen mit der fremden Kultur und Religion publizierte er in mehreren Schriften. 1608 erschien seine Newe Reyßbeschreibung auß Teutschland nach Constantinopel und 1616 Der Türken Alcoran. Religion und Aberglauben, die erste Übersetzung des Koran ins Deutsche, allerdings aus dem Italienischen. Eine deutsche Koranübersetzung aus dem Arabischen wurde im Jahr 1772 von David Friedrich Megerlin (1699-1778) unter dem Titel "Die türkische Bibel, oder des Korans allererste teutsche Üebersetzung" vorgelegt. Goethe kannte den Text von Megerlin, lehnte ihn jedoch als "elendige Produktion" ab und schrieb: "Wir wünschten, daß einmal eine andere unter morgenländischem Himmel von einem Deutschen verfertiget würde, der mit allem Dichter- und Prophetengefühl in seinem Zelt den Koran läse und Ahndungsgeist genug hätte, das ganze [sic!] zu umfassen" (Bobzin 2010: 16-17). Von zeitgenössischen Fachkollegen besser aufgenommen wurde eine Übersetzung von Eberhard Boysen von 1773, die der sprachlichen Struktur des Originals eine gesonderte Beachtung schenkte. In den folgenden Jahren versuchten sich weitere deutsche Übersetzer, unter anderem Friedrich Rückert (1788-1866), an dem Werk und setzten sich besonders mit der Herausforderung auseinander, seinen poetischen Charakter treffend wiederzugeben. "Der Koran ist nicht nur des Islam's Gesetzbuch, sondern auch Meisterwerk arabischer Dichtkunst" (Bobzin 2010: 17), schrieb Josef von Hammer-Purgstall (1774-1856), der damals das Amt des Präsidenten der Österreichischen Akademie der Wissenschaften bekleidete. Hammer-Purgstalls bewundernde Äußerung ist symptomatisch für eine signifikante Wende im Verhältnis deutscher Gelehrter zum Orient. Die christlich geprägte Islamverunglimpfung, die im 18. Jahrhundert noch in weiten Teilen der gebildeten Kreise vorherrschte, wich einer populären Leidenschaft für orientalische Poesie, die zwar einerseits durch den Koran inspiriert war, aber auch andere literarische Werke muslimischer Autoren einbezog. Der wichtigste orientalische Dichter, der im 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland rezipiert wurde, war zweifellos der bereits genannte Hafis, ein sufistischer Poet, der im 14. Jahrhundert in Schiraz gelebt hatte und mit vollem Namen Hage Sams ad-Din Mohammad Hafis-e Schirasi hieß. Da er, so die Überlieferung, bereits in jungen Jahren in der Lage gewesen sein soll, den Koran auswendig zu rezitieren, erhielt er den Beinamen Hafis, der Personen bezeichnet, die sich durch genau diese Fähigkeit vor anderen Gläubigen auszeichnen. Sein wichtigstes Werk ist der Gedichtzyklus Diwan. Hammer-Purgstall las Hafis genauso begeistert wie Goethe und veröffentlichte seine wichtigsten Gedichte im Jahr 1812 unter dem Titel "Diwan des Hafis". Auch Rückert wurde von Hafis in den Bann geschlagen und publizierte 1822 den von ihm inspirierten Gedichtband Oestliche Rosen.
Diese verzückten Annäherungen an den Orient wurden auch an den deutschen Fürstenhöfen geteilt, dort allerdings in einer weniger intellektuellen Ausprägung. August der Starke (1670-1733), Kurfürst von Sachsen und später auch König von Polen, war ein besonders exzessiver Nachahmer orientalischer Folklore und orientalischen Prunks. Er scheute weder Geld noch Mittel, um seinen Regierungssitz aufs Prächtigste mit östlichem Dekor auszustaffieren. Anders als seine Vorgänger, die sich mit gelegentlichen Diplomatengeschenken der "Hohen Pforte" zufriedengaben, schickte August seinen Kammerdiener auf regelrechte Einkaufstouren nach Konstantinopel. Bei festlichen Anlässen inszenierte er sich als Sultan und ließ orientalische Reiterspiele aufführen, für die er eigens Kamele und Araberpferde importierte. Als Maria Josepha, die Braut seines Sohnes, im Jahre 1719 in Dresden eintraf, wurde sie mit einer türkischen Zeltstadt und orientalisch kostümierten Garden konfrontiert. Um die junge Frau zu beeindrucken, ließ der Kurfürst ein "türkisches Fest" veranstalten, für das sich seine Soldaten eigens einen "türkischen Bart" stehen lassen mussten. Heute kann man die zahlreichen gesammelten Waffen, Stoffe, Schmuckarbeiten und Pferdegeschirre in der "türckischen Cammer" des Residenzschlosses bewundern.
Abgesehen von den feinsinnigen Adaptionen des Orientalischen in der deutschen Dichtkunst und der groben Inszenierung osmanischer Gelage durch den Adel wurde der Orient in Kunst und Architektur populär. Leopold Carl Müller (1834-1892), der sich auf seinen Reisen insbesondere von Ägypten begeistern ließ, gehörte ebenso zu den deutschen "Orientmalern" wie Gustav Bauernfeind (1848-1904), den es nach Syrien, dem Libanon und nach Palästina zog, wohin er im Jahr 1898 vollständig übersiedelte. Jenseits dieses exotistischen Bedürfnisses wurde der Orient aber auch Gegenstand aufklärerischer Texte, die das Volk zu Toleranz erziehen sollten. Gotthold Ephraim Lessings Drama Nathan der Weise, 1779 veröffentlicht und 1783 in Berlin uraufgeführt, ist wohl das bekannteste Beispiel.
Inhalt
Inhalt
Vorwort 9
Dank 13
Teil I Muslime in Deutschland: Zwischen Stigmatisierung und Anerkennung 15
1. Gehört der Islam zu Deutschland? 16
2. Orientschwärmereien 17
3. Orientwissenschaft und deutsche Geheimdienstmissionen 20
4. Migranten und Postmigranten 23
5. Islamkritik oder Islamophobie? 25
6. Auf Reformkurs 33
Teil II Muslime in Wiesbaden: Vielfältig, hybrid, transkulturell 39
1. Religiöse Heimat unter wilhelminischen Dekors: Die Süleymaniye-Moschee 41
2. Mitgliederstark und dennoch am Rande: DITIB 61
3. Tulpen zum Freitagsgebet: Die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs 69
4. Süßer Tee und Herzensbildung: Sufistische Bruderschaften 85
5. Ein Ort zum Weinen: Die Imam-Hossein-Moschee 107
6. 100 Moscheen bauen: Die Ahmadiyya Muslim Jamaat 126
7. Kulturell und mental europäisch: Die Islamische Gemeinschaft der Bosniaken 144
8. Der Scharia folgen: Der Islamische Kulturverein Masjid Ali 151
9. Im Paradies die Gewinner: Die Tauhid-Moschee 166
10. Männer mit Bärten: Der Weg der Mitte 199
11. Engel, Geister und die Schönheit des Gebets: Die Omar-Ibnulkatab-Moschee 210
12. Durch Heiratsbeziehungen mit Marokko verbunden: Die Badr Moschee 244
13 Ohne Kopftuch in die Hölle: Der Afghanische Kulturverein 254
Teil III Debatten, Programme, Positionen 267
1. Kommunale Interventionen 267
2. Jugend zwischen Kicker und Gebetsraum 299
3. Verbotenes Begehren und arrangierte Ehen 331
Schlussbetrachtung 367
Anmerkungen 375
Glossar 385
Literatur 389
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