Beschreibung
Menschen, die im öffentlichen Gesundheitswesen tätig sind, müssen schwierige Entscheidungen treffen. Eine Kriterienberatung für solche ethischen Entscheidungen ist in Deutschland jedoch bislang selten. Peter Schröder-Bäck nimmt dieses Manko zum Anlass, einen Reflexionsrahmen zu entwickeln, der es den Akteuren in ihrer alltäglichen Praxis ermöglicht, ethische Herausforderungen zu erkennen, zu benennen und reflektierte Lösungsansätze zu finden.
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Autorenportrait
Peter Schröder-Bäck, Dr. phil., ist assoziierter Professor am Department of International Health der Universität Maastricht.
Leseprobe
1. Einleitung: Ethische Herausforderungen in Public Health Im praktischen und wissenschaftlichen Bereich Public Health stellen sich Fragen nach Werten. Dabei bezieht sich der Begriff Werte nicht nur auf Werte, die - wie der p-Wert in der Statistik - in Zahlen ausgedrückt wer-den können. Im Kontext von Public Health spielen auch moralische Werte und die Auseinandersetzung mit ihnen eine Rolle. Die Theorie moralischer Werte und des richtigen Entscheidens und Handelns ist die Ethik. Sie ist eine Disziplin, in der systematisch moralische Normen und Wertkonflikte geprüft und Kriterien entwickelt werden, die Handlungsorientierung bieten sollen, wenn die Alltagsmoral argumentative Unterstützung braucht. Ethische Herausforderungen im Zusammenhang mit der Gesundheit von Populationen, mit der sich Public Health beschäftigt, werden inner-halb der etablierten Bioethik-Diskurse bisher noch wenig bearbeitet. Dabei ergeben sich seit jeher ethische Herausforderungen bei Public-Health-Maßnahmen. Schwierige ethische Fragen - beispielsweise unter welchen Umständen eine Impfpflicht rechtfertigbar ist oder welche gesundheitlichen Ungleichheiten unmoralisch sind - werden in Public Health noch nicht intensiv ethisch reflektiert. Inzwischen formieren sich jedoch sowohl international als auch im deutschsprachigen Raum Public-Health-Ethik-Diskurse. Vor diesem Hintergrund soll mit dieser Arbeit ein Beitrag geleistet werden, ethische Herausforderungen, die in der Public-Health-Praxis auftreten, ethisch differenziert betrachten zu können. Darüber hinaus soll ein Ansatz für eine ethische Rechtfertigungsunterstützung für Public-Health-Akteure (als Oberbegriff für Public-Health-Wissenschaftler oder -Praktiker, die beispielsweise in Forschungsinstitutionen, Gesundheitsämtern oder Bundes- und Landesgesundheitsbehörden arbeiten) skizziert und vorgeschlagen werden. Zuerst sollen im Folgenden nun anhand von Fallgeschichten ethische Herausforderungen von Public Health narrativ dargestellt werden. Ziel der Narration ist es auch, sich an das dieser Arbeit zugrunde liegende Verständnis von Public Health, dem sich definitorisch im zweiten Kapitel genähert wird, heranzutasten. Auf die Fallgeschichten wird im Laufe der Arbeit zur Veranschaulichung der Diskussion wieder rekurriert. Im An-schluss an die Darstellung der Fallgeschichten wird das Ziel dieser Arbeit formuliert. Es wird vorgestellt, mit welchen Schritten dieses erreicht wer-den soll. In einem letzten Unterkapitel in dieser Einleitung werden noch die Vorarbeiten, die zu dieser Arbeit geführt haben, genannt. 1.1 Fallgeschichten 1.1.1 Unerwünschte epidemiologische Forschungsergebnisse Ein Professor für Epidemiologie kommt in einer Studie zu Ergebnissen, die sein Auftraggeber - eine Industriefirma - unter Verschluss halten will. Die Forschungsergebnisse geben nämlich deutliche Hinweise darauf, dass es einen Zusammenhang zwischen den Stoffen, denen Arbeiterinnen am Arbeitsplatz ausgesetzt sind, und Unfruchtbarkeit unter diesen Frauen gibt. Die Auftraggeber der Studie versuchen, die Sorgen des Professors zu zerstreuen: Unfruchtbarkeit sei keine Krankheit - immerhin sei ein großer Anteil aller Frauen, nämlich vor der Pubertät und nach der Menopause, unfruchtbar. Zudem insistieren sie auf ihr vertraglich festgelegtes Recht an den Forschungsergebnissen, die der Professor nur mit Genehmigung der Auftraggeber kommunizieren darf. Was soll der Professor tun? 1.1.2 Impfpflicht gegen Masernkomplikationen und politischer Druck Ein Referatsleiter einer Landesgesundheitsbehörde ist mit der Entwicklung eines neuen Impfkonzepts zur Masernprävention beauftragt, da in seinem Land regelmäßig Masernausbrüche vorkommen und im letzten Jahr sogar ein Kind an begleitenden Komplikationen gestorben ist. Durch Literaturrecherche und Diskussionen mit Kollegen aus Ländern wie Tschechien oder Ungarn findet er heraus, dass eine Impfpflicht eine gute Maßnahme ist, eine hohe Durchimpfungsrate zu bekommen. Diese ist notwendig, um Masern auszurotten und so letztlich gesundheitlichen Schaden durch die begleitenden Komplikationen abzuwenden. Eine hohe Durchimpfungsrate schafft auch Schutz für die Kinder, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können. Der Mitarbeiter genießt hohes Ansehen bei seiner Gesundheitsministe-rin, die durch die Masernausbrüche unter politischen Druck geraten ist. Er kann davon ausgehen, dass die Ministerin seine Empfehlungen ins Kabinett einbringen und für die Umsetzung der Empfehlungen kämpfen wird. Bei dem Gedanken an eine Impfpflicht bekommt der Mitarbeiter trotz aller guten empirischen Gründe pro Impfpflicht jedoch Bauchschmerzen. Soll er seiner Gesundheitsministerin trotzdem eine Impfpflicht vorschlagen? 1.1.3 SARSAusbruch und Kontaktierung expositionsverdächtiger Personen Im Jahr 2003 während des SARS-Ausbruchs in Toronto fühlt sich eine Pflegerin eines Krankenhauses, in dem SARS-Fälle behandelt werden, unwohl und hat Fieber. Sie will ihre Kollegen jedoch nicht noch mit zu-sätzlicher Arbeit, die ihre Krankmeldung bedeuten könnte, belasten. Sie nimmt einen vollbesetzten Pendler-Zug morgens zur Arbeit. Später stellt sich heraus, dass die Krankenpflegerin an SARS erkrankt ist. Die Gesundheitsbehörden werden informiert und müssen die anderen Personen, die in dem Zug mitgefahren sind, warnen und auffordern, sich auf SARS zu testen. In der Behörde wird überlegt: Reicht es, den betroffenen Zug in den Medien zu nennen, oder sollte man zusätzlich ein Bild der Krankenpflegerin, die asiatischer Abstammung ist, zeigen und ihren Namen bekannt geben? 1.1.4 Aufklärungskampagne auf Deutsch/Türkisch In einer deutschen Großstadt ist die Säuglingssterblichkeit außergewöhn-lich hoch. Analysen ergeben, dass besonders die türkischen Stadtbewohner betroffen sind. Eine Arbeitsgruppe des Gesundheitsamts konsultiert Wissenschaftler, die ihnen empfehlen, eine großflächige Aufklärungskampagne zu starten, die türkische und türkischstämmige Frauen über Säuglingssterblichkeit, Früherkennungsuntersuchungen bei Schwangeren und Säuglingen, die richtige Säuglingspflege und Säuglingslagerung aufklärt. Die Wissenschaftler regen an, weitläufig in der Stadt und in den lokalen Medien sowohl auf Türkisch als auch auf Deutsch auf das Risiko der Säuglingssterblichkeit hinzuweisen und die Frauen anzuhalten, ihre Kinder in Rückenlage schlafen zu lassen, sich in der Schwangerschaft und im Wochenbett von Ärzten und Hebammen betreuen zu lassen, ärztliche Untersuchungs- und Beratungsangebote wahrzunehmen, die Wohn- und Schlafräume der Kinder nicht zu überheizen, dafür aber zu lüften, und keinesfalls in Gegenwart der Kinder zu rauchen. Die Kampagne soll bewusst muslimische Lebensgewohnheiten berücksichtigen, um die vorwiegend muslimischen Türkinnen und ihre Ehemänner anzusprechen. Das Gesundheitsamt könnte die finanziellen Mittel bereitstellen, Aufklärungsmaterial herzustellen, Poster an Litfasssäulen und an Haltestellen auszuhängen, Broschüren in öffentlichen Gebäuden auszulegen und Zeitungsanzeigen zu schalten. Die Mitarbeiter der Arbeitsgruppe befürchten jedoch, durch eine solche Kampagne die türkische Gemeinde - sowie Muslime und Migranten allgemein - an den Pranger zu stellen. Wie sollen sie ent-scheiden? 1.1.5 Gesundheitliche Ungleichheiten Der Jahreskongress der Deutschen Public-Health-Vereinigung findet in diesem Jahr in Mannheim statt. An diesem Kongress nehmen neben einer großen Gruppe Studierender der Gesundheitwissenschaften und Sozialar-beitswissenschaften auch Wissenschaftler und Lehrende von deutschen Public-Health-Fakultäten sowie Mitarbeiter von Gesundheitsbehörden teil. In diesem Jahr ist das Schwerpunktthema des Kongresses soziale und ge-sundheitliche Ungleichheit. Studentische Teilnehmer diskutieren den Plan, am Ende des mehrtägigen Kongresses ein "Mannheimer Manifest gegen gesundheitliche Ungleichheiten" zu verabschieden. Der Entwurf des Manifests, der während des Kongresses kursiert, fordert, den Großteil...