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Die neue Offenheit

Wahlverhalten und Regierungsoptionen im Kontext der Bundestagswahl 2013

Erschienen am 10.09.2015, 1. Auflage 2016
29,90 €
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593501611
Sprache: Deutsch
Umfang: 388 S.
Format (T/L/B): 2.4 x 21.4 x 14.2 cm
Einband: Paperback

Beschreibung

Was für ein Paukenschlag! Bei der Bundestagswahl 2013 scheidet die FDP aus dem deutschen Parlament aus, der 'Alternative für Deutschland' gelingt dagegen fast der Sprung nach Berlin. CDU und CSU erringen nahezu die Hälfte der Mandate. 'Die Linke' geht als drittstärkste Partei aus den Wahlen hervor. SPD und Grüne sind nach dem Urnengang hin- und her gerissen angesichts enttäuschender Resultate und der verlockenden Aussicht, der nächsten Bundesregierung anzugehören. Renommierte Experten legen in diesem Band eine detaillierte Analyse der zurückliegenden Bundestagswahl vor. Im Mittelpunkt ihrer Untersuchungen steht dabei nicht die Momentaufnahme des '22. September', sondern die langfristige Perspektive: Welche Rückschlüsse lassen sich aus der Wahl für das Parteiensystem, das Wählerverhalten und die politische Kommunikation in Deutschland ziehen?

Autorenportrait

Prof. Dr. Ursula Münch leitet die Akademie für Politische Bildung Tutzing. Prof. Dr. Heinrich Oberreuter lehrte Politikwissenschaft an der Universität Passau.

Leseprobe

Wahlen, Parteiensystem, Regierungsbildung: Deutschland 2013 Heinrich Oberreuter 1. Auf dem Weg in die Große Koalition Seit dem Wahlabend des 22. September 2013 war Deutschland auf dem Weg in eine Große Koalition, den das Wahlergebnis wies. Schwarz-Gelb war nicht mehr möglich, für Rot-Grün reichte es bei Weitem nicht und Rot-Rot-Grün war nie ein ernsthaft in Erwägung gezogenes Modell. In gleiche Richtung wies das Erfordernis einer stabilen Regierung, nicht zuletzt auch angesichts der keineswegs ausgestandenen Banken- und Staatsschuldenkrise im Euroraum. Sie ließ im Grunde keine andere Wahl. Ähnliches gilt für die Konstellation zwischen Bundestag und Bundesrat. Im Bundesrat ließ sich gegen die SPD keine Mehrheit bilden. Und 40 Prozent der Gesetze bedürfen der Zustimmung dieser zweiten Kammer. Angesichts dieser Konstellation war die Koalitionsbildung vorgezeichnet, auch wenn große - oder besonders artikulationsstarke - Teile der SPD sie nur widerwillig akzeptierten. Die Mitgliedschaft von 15 Landesministerpräsidenten bzw. Landesministern in den Verhandlungskommissionen für den Koalitionsvertrag belegt die Relevanz des Föderalismus für erfolgreiches Regieren in Berlin. Gleichwohl ist der Weg zur Regierungsbildung 2013 der längste in der Geschichte der Republik gewesen. Sondierungen zwischen SPD, Linken und Grünen hat es, trotz aller Avancen der Linken, nicht gegeben. Die Sondierungen zwischen Schwarz (Union) und Rot (SPD) verliefen von Beginn an konstruktiv und kooperativ, die zwischen Schwarz und Grün zumindest sachorientiert und trotz fortbestehender wesentlicher Dissenspunkte (speziell zur Energiepolitik) in einem unerwartet positiven Kommunikationsklima. Dies schien alle Beteiligten zu überraschen, die Grünen in Verbindung mit ihrem bevorstehenden umfassenden Personalumbau auch zu überfordern, wenn nicht zu ängstigen. Schwarz-grüne Koalitionschancen erscheinen in der Zukunft wahrscheinlicher, auch weil beide Parteien an einer Erweiterung ihrer Optionen interessiert sein müssen, um nicht im Kern an einen einzigen Partner gefesselt zu sein. Nicht zuletzt deswegen wurde die Koalition in Hessen (wo am gleichen Tag gewählt worden war) möglich, für die es eigentlich historisch, ideologisch und klimatisch in Deutschland mit die schlechtesten Aussichten gegeben hatte. Die Basis der SPD und ihr linker Flügel besaßen bis zuletzt erhebliche Vorbehalte. Diese stützten sich auf das desaströse Wahlergebnis von 2009 (?11,9 Prozentpunkte), nach der letzten Großen Koalition. Angeblich sei es durch die Mitarbeit in dieser Koalition und die Ausstrahlung der Kanzlerin verursacht gewesen. Beide Parteien waren jedoch numerisch und politisch gleich stark. In Wahrheit waren tiefe Zerwürfnisse in der SPD und erhebliche Führungskrisen für deren Niedergang verantwortlich. Sie verschliss in dieser Zeit fünf Parteivorsitzende. Die Querelen waren nicht zuletzt auf jenen linken Parteiflügel zurückzuführen, der nun 2013 starke Bedenken trug. Mit deren falschen Begründungen kämpfte er nicht nur um seinen Positionsvorteil, sondern suchte zugleich in der innerparteilichen Diskussion seine Fehler von 2009 zu überspielen. Einerseits war es der jetzigen Führung nach den ersten Sondierungen relativ gut gelungen, im Parteikonvent (einem Gremium der mittleren Funktionärsschicht) eine Mehrheit für den Eintritt in Koalitionsverhandlungen zu gewinnen. Andererseits bestanden allem (erzeugten?) Anschein nach Bedenken an der Basis fort. Selbst von Mitgliedern des Kompetenzteams des Kanzlerkandidaten Steinbrück war informell zu hören, es werde nicht einfach sein, Zustimmung zum noch auszuhandelnden Koalitionsvertrag zu gewinnen. Dies war nicht nur ein Druckmittel gegen die Union, bei dessen Aushandlung sozialdemokratischen Essentials zuzustimmen. Denn die SPD hatte den definitiven Beitritt zu einer Koalition mit CDU und CSU einem positiven Votum ihrer 470 000 Mitglieder unterworfen. Für solch einenMitgliederentscheid gilt ein Quorum von 20 Prozent, das heißt gut 90 000 Mitglieder müssen sich beteiligen, eine Mehrheit davon muss zustimmen. Im Ernstfall hätten etwa 50 000 Stimmen über die Regierungsbildung entscheiden können. Angesichts von 62 Millionen Wahlberechtigten, über 44 Millionen Wählern und über 11 Millionen Stimmen für die SPD (und 18 Millionen für CDU/CSU) ist diese Entscheidungsmacht einer privilegierten Minderheit (selbst innerhalb der Partei) ein - natürlich nicht verfassungserheblicher - Widerspruch gegen das Prinzip repräsentativer Demokratie, nicht zuletzt gegen die Verantwortung der Mandatsträger. Schließlich nahmen unerwartete 78 Prozent der Mitglieder teil, 75,96 Prozent von ihnen votierten positiv und brachten die Debatte an ihr Ende. Auf der anderen Seite hatte sich auch innerhalb der Union Kritik geäußert. Sie fürchtete allzu weitgehende, vor allem sozialpolitische Zugeständnisse an die SPD, für welche CDU und CSU an den Wahlurnen keine ausreichende Zustimmung erhalten hätten. Merkel und Seehofer, die beide diese Koalition wollten, forderte diese Kritik jedoch nicht wirklich heraus. Schließlich war das Wahlprogramm der CDU im Wesentlichen die dritte Kanzlerschaft für Angela Merkel gewesen. Zwischendurch hatte auch der SPD-Vorsitzende Gabriel geäußert, es wäre irreal, eine absolute Durchsetzung sozialdemokratischer Positionen zu erwarten. Allerdings ist es eine Paradoxie, dass CDU und CSU nach einem unerwartet hohen Wahlsieg mit erheblich gesteigerten Stimmen- und Mandatspotenzialen von verminderter politischer Durchsetzungskraft auszugehen haben. Wäre die Koalition mit der SPD gescheitert, wären als Alternative aber voraussichtlich nur Neuwahlen geblieben. An ihnen konnte die Union kaum interessiert sein. Die SPD dagegen musste sie geradezu fürchten, weil ihr und ihren Mitgliedern die Hauptschuld am Versagen der Parteien bei der Regierungsbildung (und damit an einer Krise des Parlamentarismus) zugefallen wäre. Für die Einwurzelung der pluralistisch-demokratischen politischen Kultur ist von Interesse, dass frühzeitig eine rege Diskussion darüber entstanden ist, wie eine derart große Koalition die Alternativ- und Kontrollfunktion einer kleinen Opposition schwächen könnte, deren beide Fraktionen nicht einmal gemeinsam die Quoren zur Wahrnehmung wichtiger Minderheitenrechte erreichen. In der Tat ist oppositionelle Entfaltungsfreiheit (neben der freien Wahl) das schlechthin entscheidende Kriterium einer parlamentarischen Demokratie. Bei der konstituierenden Sitzung des Bundestages erinnerte Bundestagspräsident Norbert Lammert in seiner Antrittsrede zutreffend an die eigenen Rechte der Minderheit. Diskutiert wurde sogar eine Grundgesetzänderung zugunsten der Opposition. Allerdings empfehlen sich von aktuellen Stimmverhältnissen abhängige Manipulationen am Recht nicht, weil sie unter anderen Umständen auch als Präzedenz für missbräuchliche Intentionen dienen könnten. Selbst die Geschäftsordnung ist dafür anfällig. Um sie im Kern unangetastet zu lassen, wurde ein Ausnahmeparagraf über "Besondere Anwendung der Minderheitenrechte in der 18. Wahlperiode" aufgenommen, der exakt für diese Zeit von den üblichen Quoren absieht und unter anderem die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen und Enquetekommissionen ermöglicht. Sogar der Oppositionszuschlag bei der Zuwendung von Geld- und Sachleistungen an die Fraktionen wurde von 10 auf 15 Prozent erhöht. Darüber hinaus wird die übergroße Mehrheit informell an großzügig kooperative Prozeduren in der parlamentarischen Praxis erinnert. Geradezu absurd ist aber die Meinung gewesen, geboten sei zur Stunde - und zwar demokratietheoretisch! - eine Minderheitenregierung der Union, um den "drei Parteien links der Mitte die Chance" zu eröffnen, "sich Schritt für Schritt bis zur nächsten Bundestagswahl zusammenzuraufen und damit die Voraussetzung für einen Machtwechsel zu schaffen". Die Demokratie lebe vom Wechsel zwischen Regierung und Opposition. Offensichtlich käme es aber aus dieser Sicht nicht mehr auf Regierungsfähig...