0

Entstalinisierung als Wohlfahrt

Sozialpolitik in der Sowjetunion 1953-1970

Erschienen am 09.02.2015, 1. Auflage 2015
42,00 €
(inkl. MwSt.)

Lieferbar innerhalb 1 - 2 Wochen

In den Warenkorb
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593502847
Sprache: Deutsch
Umfang: 280 S.
Format (T/L/B): 1.8 x 21.4 x 14.1 cm
Einband: Paperback

Beschreibung

Sozialpolitik war in der Sowjetunion sowohl als Begriff wie als Sache lange Zeit abwesend. Warum sollte ein sozialistisches System Sozialpolitik betreiben, verkörperte es doch die soziale Gerechtigkeit schlechthin? Sozialpolitik galt dem Kreml als Reparaturarbeit an den Auswüchsen des Kapitalismus. Die Zeiten änderten sich jedoch nach Stalins Tod. Bis 1953 hatte Sozialismus in der UdSSR Massenarmut, Konsumverzicht und miserable Lebensverhältnisse bedeutet. Ab 1956 wurde Sozialpolitik zu einem zentralen Baustein der Entstalinisierung - denn Bedürftigkeit und Armut ließen sich auch in der UdSSR nicht mehr übersehen. In der Breschnew-Zeit erreichte die Sozialpolitik ihren Höhepunkt.

Autorenportrait

Galina Ivanova arbeitet am Institut für Russische Geschichte an der Akademie der Wissenschaften in Moskau. Stefan Plaggenborg ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum.

Leseprobe

Entstalinisierung: Auf dem Weg zur Sozialen Planwirtschaft Vorwort von Stefan Plaggenborg Sozialpolitik, der Gegenstand des Buches der Moskauer Historikerin Galina Ivanova, war in der Sowjetunion sowohl als Begriff wie als Sache lange Zeit abwesend. Warum sollte ein sozialistisches System Sozialpolitik betreiben, verkörperte es doch als solches die soziale Gerechtigkeit schlechthin. Sozialpolitik war Reparaturarbeit an den Auswüchsen des Kapitalismus. In der Sow­jetunion bedurfte es solcher Tätigkeiten nicht. Eine derartige Sichtweise hat sich als Selbsttäuschung herausgestellt. Die Probleme sozialer Ungleichheit, Bedürftigkeit, Armut sowie viele andere Fälle von notwendiger Unterstützung infolge von Lebensrisiken ließen sich auch in der Sowjetunion nicht übersehen. Sie veranlassten die Regierung in Moskau, in der Sache Dinge zu tun, die den üblichen Namen nicht tragen durften. Im Vergleich zu westlichen Staaten begann der Kreml spät mit Sozialpolitik. Zwar wurde auch schon zuvor soziale Fürsorge betrieben, doch erst nach 1956 wurde sie Schritt für Schritt systematisch ausgebaut. Erstmals liegen nun zwei umfassende Studien zu diesem Gebiet der sowjetischen Geschichte nach Stalin vor, die auf umfangreichen Archivalien beruhen. Neben Ivanovas Buch ist die grundlegende Untersuchung zur Altersversorgung von Lukas Mücke zu nennen. Grundlegend deshalb, weil in ihr nicht nur der Gegenstand mustergültig erforscht worden ist, sondern auch, weil an der Art und Weise, wie ein Regime mit den Alten umgeht, die soziale Verfassung einer Gesellschaft erkennbar wird. Beide Arbeiten sind in einem gemeinsamen Forschungsprojekt an der Ruhr-Universität Bochum entstanden. Sie können unser Wissen sowie unseren Blick und die Interpretation der Jahre nach Stalin erheblich verändern. Den Lesern, die sich in die einzelnen Kapitel des vorliegenden Buches von Galina Ivanova vertiefen, sei mit einer kurzen Einführung geholfen, die, erstens, den historischen Kontext der sowjetischen Sozialpolitik erläutert, zweitens die wichtigsten Ergebnisse des Buches zusammenfasst und offene Fragen anschließt und drittens die Resultate der Untersuchung in eine knapp skizzierte Diskussion über vergleichende und theoretische Aspekte von Sozialpolitik und Wohlfahrtsstaat einführt. Historisch ist die sowjetische Sozialpolitik in den Zusammenhang der Entstalinisierung einzuordnen. Für die sowjetische Geschichte liegt hier eine tiefgreifende Zäsur vor, welche die poststalinistische UdSSR deutlich von den Jahren der stalinistischen Herrschaft abhebt. Bisher haben wir uns an eine bestimmte Sicht dieser neuen Phase der sowjetischen Geschichte gewöhnt. Entstalinisierung, das war die Abkehr des Regimes von der massenhaften Gewalt, der in den Jahren des Stalinismus Millionen Menschen zum Opfer gefallen waren. Wir denken an die "Geheimrede" des Ersten Sekretärs Nikita Chru?ev auf dem 20. Parteitag der KPdSU 1956, in der er mit Stalin abrechnete, ihn als Verbrecher bezeichnete, zahlreiche Terrormaßnahmen beschrieb und ebenso viele nicht erwähnte und das riesige Problem des massenmörderischen Stalinismus unter dem Begriff des Personenkultes zusammenfasste, das heißt verkleinerte. Entstalinisierung bedeutete - wie sich herausstellte: vorübergehende - Liberalisierungen in den Wissenschaften, sogar in der ideologisch gebundenen Geschichtswissenschaft, vor allem aber in der Kunst. Das "Tauwetter", der Titel eines Romans von Ilja ?renburg, gab diesen neuen Tendenzen den Namen. Erstmals durfte die literarische Verarbeitung von Lagererfahrungen erscheinen: Aleksandr Solenicyns Ein Tag im Leben des Ivan Denisovi?. Nach der ersten großen Amnestie von Lagerhäftlingen 1953 wurden die Lager des Gulag schrittweise aufgelöst. Rehabilitierungen der Opfer des Stalinismus kamen auf die politische Tagesordnung, wurden aber nur halbherzig betrieben. Rechtsreformen führten 1957/58 zu einer Demilitarisierung der Rechtsprechung. Ein formeller Verbrechensbegriff, der Tatbestand und nachweisbare Schuld einbezog, hielt Einzug in die reformierte sowjetische Strafprozessordnung; im Stalinismus hatte sich die ohnehin amateurisierte Justiz nicht um derlei juristische Feinheiten gekümmert. All dies war von großer Bedeutung, auch für den einzelnen Sowjetbürger. Es blieb aber ein zentrales Problem ungelöst: Wie sollte das Regime die Bevölkerung an sich binden, wie Loyalitäten erzeugen, wie die Gesellschaft nach den Verheerungen des Stalinismus befrieden? Dass die Kommunistische Partei die Bevölkerung verloren hatte, ließ sich nicht übersehen. Zwar lieferte der Triumph im "Großen Vaterländischen Krieg" eine neue Legitimationsbasis, aber erst Chru?evs Nachfolger Leonid Brenev instrumentalisierte den Sieg systematisch zugunsten des sozialistischen Systems. Während der Entstalinisierung suchte das Regime noch die "lebendige Verbindung zu den Massen": Dadurch sollte der Gegensatz von Regime und Gesellschaft abgemildert werden, der auch unter Stalin nicht in der scharfen dichotomischen Form existiert hatte, weil es viele Sympathisanten, Mitläufer und Unterstützer gab. Nun wurden Brücken gebaut, und zwar - davon berichtet dieses Buch unter anderem - von beiden Seiten. Um die "lebendige Verbindung zu den Massen" erfolgreich herstellen zu können, musste die Führung nach Stalin die dunkelsten Kapitel beseitigen, die sie vom Despoten geerbt hatte, und das hieß, namentlich zwei Probleme zu lösen. Sie musste Terror und Gewalt beenden. Das vermochte sie gleichsam per Dekret herbeizuführen, eine relativ einfache Angelegenheit, denn die Nachfolger Stalins brauchten nur den Entschluss zu fassen. Das zweite Problem ließ sich nicht wegdekretieren: die katastrophale materielle Lage der Bevölkerung und ihr fehlender Schutz gegen die Risiken des Lebens. Vor diesem Hintergrund ist die Sozialpolitik zu sehen, deren Geschichte 1956 begann. Sie steht nicht nur im Zusammenhang mit Entstalinisierung, sie ist Entstalinisierung. Sie ging über das Jahr 1964, als Chru?ev gestürzt wurde, hinaus und erlebte eine Blüte unter Brenev. Das ist umso bemerkenswerter, als diejenigen, die Chru?ev die Ämter nahmen, vieles von dem rückgängig machten, was er eingeleitet hatte. Die Sozialpolitik aber blieb nicht nur, sie wurde zu ihrem Höhepunkt geführt. Nun hieß es, es sei das Grundanliegen des sozialistischen Staates, die sozialen Garantien entsprechend der Verfassung von 1936 zu gewährleisten und sie besonders in der Zeit des "entwickelten Sozialismus" allen Sowjetbürgern ungeachtet ihrer Klassenzugehörigkeit zukommen zu lassen. Integration und Loyalität der Bevölkerung, das hatte auch die Führung um Brenev verstanden, ließ sich mit Hilfe verbesserter Einkommen, ausgeweiteter Sozialleistungen und höherer Lebensstandards erreichen. Seit 1956, besonders aber während der Brenev-Ära seit 1965, stand die "Erhöhung des Wohlstands der Sowjetbürger" auf der Tagesordnung und wurde zu einer gängigen Formel auf den Parteitagen dieser Zeit. Der Ausdruck "soziale Gerechtigkeit" fand Eingang in die politische Sprache, ja selbst der Begriff Sozialpolitik war nicht länger verpönt. Die Sowjetunion lebte nicht isoliert in ihrem sozialistischen Kosmos. Die Systemkonkurrenz zum Kapitalismus bildete einen wichtigen Bezugspunkt für Sozialpolitik. Die sowjetischen zeitgenössischen Verlautbarungen bemühten gern und häufig den Vergleich und hoben in Fragen des Lebensstandards und der sozialen Versorgung die Leistungen des Sozialismus hervor, die denen der meisten kapitalistischen Länder, darunter der USA, überlegen seien. Dem Kapitalismus entgegen stand die "sozialistische Lebensweise" (socialisti?eskij obraz izni), die sich in den Augen der sowjetischen Führung immer mehr zur nichtkapitalistischen zivilisatorischen Alternative entwickelte. Begrifflich gingen die sowjetische Sozialpolitik und die "sozialistische Lebensweise" eine enge Verbindung in der Sprache der Zeit ein, sodass im sowjetischen Verständnis mehr mitschwang als die schlichte Beseitigung von sozialen Missst...