Beschreibung
Kontingenzgeschichten Herausgegeben von Frank Becker, Stefan Brakensiek und Benjamin Scheller Der Mensch der Vormoderne wähnte die Zukunft bei den Göttern aufgehoben, erst moderne Gesellschaften waren und sind vor die Herausforderung gestellt, im Bewusstsein der Ungewissheit alles Künftigen zu denken und zu handeln - der Umgang mit Kontingenz in der Geschichte ist weit komplizierter, als es dieses einfache Schema unterstellt. Auch in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit - so die Quintessenz des Bandes - entwickelten die Menschen Strategien, um sich gegen Schäden zu wappnen, die eintreten oder nicht eintreten konnten. Umgekehrt bestanden in der Moderne jene Formen der magischen Beschwörung des Künftigen vielfach fort, die üblicherweise mit vormodernen Gesellschaften identifiziert werden.
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Autorenportrait
Markus Bernhardt ist Professor für Didaktik der Geschichte an der Universität Duisburg-Essen, Stefan Brakensiek ist dort Professor für die Geschichte der Frühen Neuzeit, Benjamin Scheller Professor für die Geschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit.
Leseprobe
Vorwort Dieser zweite Band der Reihe Kontingenzgeschichten präsentiert Beiträge von Kolleginnen und Kollegen, die auf Einladung des Graduiertenkollegs Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage - Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln nach Essen gekommen sind und mit ihrer Expertise zur Problemstellung dieses historischen Forschungsverbundes beigetragen haben. Sie haben sich darauf eingelassen, Antworten auf die Frage zu formulieren, wie Menschen zu verschiedenen Zeiten, in unterschiedlichen Weltregionen mit einer grundsätzlich unsicheren Zukunft aktiv umgegangen sind. Ausgangspunkt der Überlegungen ist das in den Sozial- und Geistes-wissenschaften verbreitete Postulat, die westliche Moderne habe ein prinzipiell neuartiges Verhältnis zur Kontingenz entwickelt, das sich von den Haltungen in "traditionalen Gesellschaften" - den älteren bzw. außer-europäischen Zivilisationen - fundamental unterscheide. Das Essener Graduiertenkolleg setzt sich mit dieser Annahme grundlegend kritisch auseinander. Es ist keineswegs angetreten, die Differenz zwischen der westlichen Moderne und anderen Gesellschaften in Abrede zu stellen. Die Frage ist freilich, worin Unterschiede zwischen und innerhalb von ver-schiedenen Gesellschaften bestehen, und ob der Umgang mit Kontingenz die entscheidende Grenzmarkierung bildet, als die sie aktuell im Moderne-diskurs erscheint. Eingeleitet wird Ermöglichen und Verhindern mit einem methodologischen Beitrag zur Grundlegung der Praxeologie, jenen kulturwissenschaftlichen Forschungsansätzen, die sich in der Arbeit des Essener Kollegs zur Klärung von Fragen nach dem aktiven Umgang mit einer ungewissen Zukunft als besonders geeignet erwiesen haben. Die übrigen Beiträge setzen der verbreiteten Vorstellung einer kategorialen Differenz zwischen der westlichen Moderne und allen anderen Gesellschaften zwei alternative Perspektiven entgegen: Die einen befragen die Handlungsweisen von Menschen der Spätantike und des Mittelalters daraufhin, welcher aktive Umgang mit der Zukunft ihnen abzulesen ist. Die anderen gehen der Frage nach, was die Untersuchung von Prävention, Planung und Zukunftsforschung, also jener für die Moderne emblematischen Handlungsformen, zur Charakterisierung eben dieser Moderne beitragen kann. Es handelt sich um Aufsatzfassungen von Vorträgen, die im Rahmen der Spring-School des Graduiertenkollegs vom 23. bis 25. Februar 2015 am Kulturwissenschaftlichen Institut (Hannig, van Laak, Leppin, Signori, Willer) sowie in der Ringvorlesung zum Thema Zukunftshandeln am Historischen Institut der Universität Duisburg-Essen im Wintersemester 2014/2015 (Flaig, Rexroth, Scheller) gehalten wurden. Wir danken Andreas Blume, Philipp Föhrenbach, Pamela Mannke-Gardecki, Franzisca Scheiner, Dr. Olav Heinemann und Dr. des. Christian Hoffarth für ihre tatkräftige Hilfe bei der Redaktion des Bandes, dem Kulturwissenschaftlichen Institut Essen und seinem Direktor Claus Leggewie für die Unterstützung bei den Tagungen des Graduiertenkollegs, Jürgen Hotz vom Campus Verlag für die gute Zusammenarbeit und nicht zuletzt der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Bezuschussung der Druckkosten. Markus Bernhardt, Stefan Brakensiek und Benjamin Scheller Essen im Mai 2016 Ermöglichen und Verhindern - Vom Umgang mit Kontingenz: Zur Einleitung Stefan Brakensiek Das Problem einer ungewissen Zukunft stellt sich prinzipiell. Ideen, die sich Menschen von der Zukunft machen und in der Vergangenheit gemacht haben, gehören zu den klassischen Untersuchungsfeldern der Geisteswissenschaften. So sind innerweltliche Utopien und Jenseitsvor-stellungen für alle Epochen und Weltregionen intensiv erforscht worden. Dass sich Menschen der Zukunft aktiv handelnd zuwenden, gehört dagegen eher zu den Selbstbeschreibungen der Moderne, als zu den ein-gehend untersuchten historischen Problemen. Üblicherweise wird davon ausgegangen, dass - sowohl in den älteren Epochen, als auch in den Gesellschaften außerhalb des Westens - Kontingenz lediglich erlitten und nicht gemanagt wurde. Erst auf der Grundlage einer neuen säkularisierten Vorstellung von einer offenen Zukunft, die in der westlichen Moderne seit der Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt wurde, sei gestaltendes, auf innerweltlichen Fortschritt angelegtes Zukunftshandeln möglich geworden. Das Essener Graduiertenkolleg ist keineswegs angetreten, die Differenz zwischen der westlichen Moderne und anderen Gesellschaften unangemessen anthropologisierend in Abrede zu stellen. Die Frage ist stattdessen, worin Unterschiede zwischen und innerhalb von verschiedenen Gesellschaften bestehen, und ob der Umgang mit Kontingenz die entscheidende Grenzmarkierung bildet, als die sie aktuell im Modernediskurs erscheint. Dieser Diskurs nimmt Überlegungen von Reinhart Koselleck auf, der herausgearbeitet hat, dass mit dem Grundproblem der Kontingenz historisch unterschiedlich umgegangen worden ist, dass mithin auch die Zukunft eine Geschichte hat. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht der fundamentale Wandel geschichtlichen Denkens seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Seither erst habe sich Geschichte als Kollektivsingular zu einem genuin menschlichen Geschehenszusammenhang verselbstständigt. Seit der Sattelzeit, so der von Koselleck geprägte Begriff für das Jahrhundert zwischen 1750 und 1850, werde Geschichte als autonomer Prozess ver-standen. Die Beschleunigung der geschichtlichen Erfahrungen habe zu einer radikal neuen, modernen Zeiterfahrung von Fortschritt und menschlicher Freiheit geführt. Zukunft wurde nunmehr zu einem offenen Raum, in dem sich geschichtliche Erfahrung in die optimistische Erwartung von Gestaltbarkeit und Optimierbarkeit künftigen Geschehens ummünzte, nicht zuletzt mittels Eingrenzen des Zufälligen und Berech-nung von Zukunft durch wissenschaftliche Expertise und Prognose. Der "Möglichkeitshorizont" sei geradezu über die natürlichen menschlichen Horizonte hinausgewachsen. Grenzenlose Horizonterweiterung gilt damit als Charakteristikum der Moderne. Der Verdacht liegt freilich nahe, dass es sich dabei auch - und vielleicht sogar in erster Linie - um eine typisch moderne Selbststilisierung handelt. Das Essener Forschungsvorhaben geht zwar ebenfalls davon aus, dass die Zukunft eine Geschichte hat, eine andere freilich, als das übliche Moderne-Narrativ glauben machen will. Diese Meistererzählung ist näm-lich im Kern teleologisch und allzu monolithisch. Der Übergang zur Moderne wird darin meist als ein linearer Säkularisierungsprozess begriffen. Paradigmatisch dafür ist der unterstellte Wandel in der Kon-zeptualisierung kontingenter Schadensereignisse: Während sie in der euro-päischen Welt vor dem 18. Jahrhundert und in allen außereuropäischen Gesellschaften als gott- oder naturgegebene Gefahren gegolten hätten, seien sie in der Moderne als Risiken verstanden und dadurch menschlichen Entscheidungen zugerechnet worden. Zweifel an dieser Sicht sind allerdings gut begründet, denn es gibt zahlreiche Hinweise dafür, dass sich Menschen in der Antike, im Mittelalter und in außer-europäischen Gesellschaften zur Zukunft kalkulierend und gestaltend in Beziehung gesetzt haben. Auch das monolithische Verständnis von Gesellschaft, das in diesem Narrativ aufscheint, erscheint eigenartig ver-engend: Es unterstellt, dass jede Gesellschaft nur einen Möglichkeits-horizont aufweist. Komplexe Gesellschaften bringen jedoch stets differen-zierte Vorstellungen von zukünftigen Ereignissen und Verhältnissen hervor. Entsprechend kennen sie eine Pluralität der Möglichkeitshorizonte. Die Beiträge dieses Bandes setzen der verbreiteten Vorstellung einer kategorialen Differenz zwischen der westlichen Moderne und allen anderen Gesellschaften zwei alternative Perspektiven entgegen: Die einen befragen die Handlungsweisen von Menschen der Spätantike und des Mittelalters daraufhin, welcher aktive Umgang mit der Zukunft ihnen abzulesen ist. Sie kommen dabei zu einer differenzierten Sicht, die der Vorstellung nic...