Beschreibung
Die Schweiz rühmt sich gern ihrer 'Humanitären Tradition'. Doch diese Meistererzählung verhaftet oft an altbekannten Zeugnissen: Sie erzählen von der Hilfe in den Weltkriegen und dem großzügigen Schweizer Spendenverhalten, sie verweisen auf die langjährigen Aktivitäten schweizerischer humanitärer Institutionen. Dieses Buch sucht neue Perspektiven auf das humanitäre Handeln der Schweizerinnen und Schweizer in transnationalen Kontexten, die die Rede von einer 'Humanitären Tradition' erst resonanzfähig machen. Eingeteilt in fünf Epochen vom 19. Jahrhundert bis heute, geht es der Genese der humanitären Hilfe der Schweiz nach. Dabei lässt es Historikerinnen und Historiker mit Autorinnen und Autoren, die außerhalb der Geschichtswissenschaft stehen, in einen Dialog treten.
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Autorenportrait
Miriam Baumeister und Patrick Sonnack arbeiten am Departement Geschichte der Universität Basel. Thomas Brückner, Dr. phil., promovierte über die Beziehung des Internationalen Roten Kreuzes und der Schweiz.
Leseprobe
Vorwort: 10 Episoden einer ungeschriebenen Geschichte Miriam Baumeister, Thomas Brückner, Patrick Sonnack Spuren der Humanitären Schweiz zeigen sich überall: in den jährlichen Budgets für humanitäre Hilfe, in Wirkungsanalysen von Schweizer Hilfsprojekten oder in Berichten von staatlich besoldeten Helferinnen und Helfern. Führen die Spuren in die Vergangenheit, so ist oft die Rede von einer Humanitären Tradition des Landes. Der Begriff der Humanitären Tradition benennt das vergangene Wirken einer Humanitären Schweiz. Die Geschichte des Roten Kreuzes, der eidgenössischen Neutralität und der freiwilligen Hilfe von Schweizerinnen und Schweizern in Kriegen halten viele Beispiele einer solchen Humanitären Tradition bereit. Aber kaum jemand vermag zu sagen, wann die Humanitäre Tradition des Landes eigentlich begonnen hat und worin sie genau besteht. Kritische Stimmen gehen sogar so weit, die Begriffe als Erfindung zu bezeichnen. Der Schweiz sprechen sie zumindest für einige Episoden ihrer Geschichte eine wirklich humanitäre Gesinnung ab. Hat dieses Buch also zum Ziel, ein informiertes Urteil zu solchen Kontroversen zu erlauben? Wer sich einzig dafür interessiert, darf das Buch getrost zur Seite legen. Wir werden im Folgenden weder versuchen, einen Mythos zu entlarven, noch streben wir an, humanitäre Hilfe als geschichtliche Tatsache verbissen zu verteidigen. Uns geht es darum, die Geschichte der humanitären Hilfe in der Schweiz, die nur sehr bruchstückhaft bekannt ist, um neue Perspektiven anzureichern und innovative Ansätze zu ergänzen. Als Ausgangspunkt dient ein politisch aufgeladener Begriff - jener der Humanitären Tradition. Allein die Tatsache, dass dieser Begriff zwar rege benutzt wird, aber wenig erforscht ist, stimmt neugierig. Das Humanitäre zieht in seinen Bann. Wir können feststellen, dass das Humanitäre eine große Sogwirkung auf die Schweiz ausübt. Denn das Land möchte sich immer wieder damit verbinden. Es gibt viele Quellen dazu, wie die offizielle Schweiz in der Vergangenheit um die Wahrnehmung bemüht war, eine Humanitäre Schweiz zu sein. Humanitäre Organisationen wie das IKRK richten Appelle an die Humanitäre Schweiz, wenn sie auf der Suche nach Unterstützung sind. Der Begriff ist bis heute ein politischer geblieben. Die Humanitäre Schweiz ist nicht nur besonders präsent in aktuellen Debatten der Asyl- und Migrationspolitik; sie ist auch Bestandteil des Kanons der schweizerischen Erinnerungskultur und gehört zu den zentralen Parametern der Geschichtspolitik. Die Vorstellung, dass das Land und die humanitäre Hilfe eng verbunden sind, hat eine identitätsstiftende Funktion. Woran mag das liegen? Einige Antworten darauf finden sich in diesem Buch. Für eine Geschichte der humanitären Hilfe ist der Begriff der Humanitären Tradition als Ausgangspunkt zwar verführerisch, aber auch gefährlich. Denn er ist unhistorisch. Erstens ist die Geschichte des Humanitarismus in der Schweiz nachweislich älter als der Begriff der Humanitären Tradition. Zweitens lenkt der Begriff die ganze Energie darauf, Kontinuitäten der Hilfe anzunehmen, danach zu suchen und darauf hinzuschreiben. Dabei wissen wir: Geschichte wiederholt sich nicht, Traditionen sind unwahrscheinlich. Und drittens hat die Humanitarismusforschung auf viele Forschungslücken aufmerksam gemacht, die der Begriff der Humanitären Tradition nicht befriedigend zu füllen vermag. Er führt weg von einer Geschichte der Hilfe aus der Sicht ihrer Empfängerinnen und Empfänger, von globalen Einflüssen auf die Hilfstätigkeit oder von Fragen nach der Motivation und den Folgen der Hilfe. Dafür neigt er dazu, Hilfstätigkeiten in der Vergangenheit zu essentialisieren und zu nationalisieren. Dies gehört nicht zu den Aufgaben von Historikerinnen und Historikern. Dennoch sind wir dem Verführerischen des Begriffs erlegen. Der Begriff hat selbst eine spannende Geschichte, die noch unerforscht ist und einige neue Fragen an die Geschichte des Humanitarismus in der Schweiz richtet, wie beispielsweise: Wann wurde es wichtig, humanitäres Helfen bewusst zur Selbstbeschreibung zu nutzen? Wir wählten den Begriff schließlich auch, weil er ein guter Ausgangspunkt dafür ist, die unterschiedlichsten Disziplinen mit der Geschichtswissenschaft in einen Dialog treten zu lassen. Darum soll es in diesem Buch gehen. Konzeptionell geht der Band von zwei Annahmen aus: Es gibt spezifische Räume und spezifische Phasen einer Humanitären Schweiz. Was ist damit genau gemeint? Zunächst zu der Annahme von Räumen einer Humanitären Schweiz. Räume erscheinen in diesem Zusammenhang nicht nur als geographische Bezugsgröße; vielmehr werden Räume sozial und kulturell hergestellt und dabei ständig neu ausgehandelt. Sie sind also ein Produkt sozialen Handelns, das sich aus wechselseitigen Beziehungen, aber auch aus der Zuschreibung von Bedeutung konstituiert. Da solche Verbindungsmuster dynamisch sind und sich ständig ändern können, unterliegen Räume einem stetigen Wandel. Folgt man dem Historiker Karl Schlögel, so existieren so viele Räume, wie es Gegenstandsbereiche, Themen, Medien und historische Akteure gibt. Diese erfordern nicht zwingend eine geographische Verortung, zeigen aber, wie sich unterschiedliche Beziehungsebenen schneiden, manchmal überlappen oder auch nebeneinander bestehen. Humanitäres Handeln entfaltet sich demnach auch entlang von Räumen, die nicht unbedingt mit Landes- oder Institutionengrenzen zusammenfallen. In diesem Sinne eröffnet die Rede über die Humanitäre Schweiz solche Räume mit ihrer jeweils speziellen sozialen, kulturellen, aber auch geographischen Topographie, in denen sie ihre Wirkung entfaltet und institutionelle, finanzielle und ideelle Rahmenbedingungen für humanitäre Hilfe entstehen. Nun zu den angesprochenen spezifischen Phasen einer Humanitären Schweiz. Sie sind weniger als fixe Epochen zu verstehen, sondern vielmehr als fünf sich zeitlich überschneidende Strukturmerkmale des Humanitarismus. Wir nehmen an, dass einer ersten Phase der Herausbildung humanitärer Hilfe in der Schweiz im frühen 19. Jahrhundert seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts die Phase der Institutionalisierung humanitärer Hilfe folgte. Die Institutionalisierung wurde ab der Jahrhundertwende von der dritten Phase der Verrechtlichung humanitärer Hilfe abgelöst. Eine Entwicklung zur Professionalisierung humanitärer Hilfe setzte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein. Sie bildet die vierte Phase. Die jüngste und fünfte Phase ist jene der Re-Politisierung. Es haben sich jeweils fünf Paare von Autorinnen und Autoren gefunden, die je einen Text zu diesen fünf Phasen beigesteuert haben. Der erste Text der Autorenpaare ist jeweils von einer Historikerin oder einem Historiker geschrieben mit Fokus auf die geschichtliche Situation, der zweite Text stammt aus der Feder einer Fachperson einer anderen Disziplin. Der Fokus liegt dabei auf der Gegenwart. Gemeinsam ergeben diese fünf Paarungen die Spurensuche einer Humanitären Schweiz in 10 Episoden. Um die Phasen möglichst konturscharf vorzustellen und die Beiträge der Autorinnen und Autoren darin einzuordnen, haben wir uns dafür entschieden, einen kurzen Einleitungstext vor jedes der fünf Textpaare zu stellen. Der Aufbau des Buches macht deutlich, dass die Lust am Erforschen den Band als Ganzes und seine Artikel im Einzelnen zusammenhält. Der Band erhebt indessen keinen Anspruch darauf, eine einführende Überblicksdarstellung über die Geschichte humanitärer Hilfe in der Schweiz zu geben. Hintergrund des Buches ist zwar die geschichtswissenschaftliche Expertise des Herausgeberteams, der Antrieb zur Herausgabe war jedoch die Freude am Experiment. Daher sei am Ende dieses Vorworts lediglich eine knappe Bemerkung zum geschichtswissenschaftlichen Forschungsstand gegeben. Es existiert viel institutionell produziertes Wissen über die humanitäre Hilfe, das zu reichhaltigen Darstellungen einzelner humanitärer Organisationen führte. Die hohe Publikationsdichte und die Zielrichtung vieler Darstellungen ...