Beschreibung
Alltagssprachlich umreißt der Begriff Urbanität Vorstellungen eines bunten städtischen Lebens. Stadtsoziologisch ist damit eine spezifisch großstädtische Lebensweise gemeint - Architektur, Stadtplanung, Kommunalpolitik und Stadtmarketing füllen den Begriff wiederum eigensinnig. In diesem Band beschreiben und analysieren Stadtforscherinnen und -forscher nicht nur Verwendungen des Begriffs Urbanität, sie widmen sich auch zentralen Themen großstädtischer Entwicklungen im 21. Jahrhundert: Urbanitätsbegriffen und -konzepten, der Stadt als Ort des "Fremden", sozialer Ungleichheit und sozialer Konflikte, Politik und Planung, Urbanität zwischen Vergangenheit und digitalisierter Zukunft.
Autorenportrait
Norbert Gestring, Dr., ist Stadtsoziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Jan Wehrheim, Dr., ist Professor für Soziologie am Institut für Soziale Arbeit und Sozialpolitik der Universität Duisburg-Essen.
Leseprobe
Einleitung: Urbanität im 21. Jahrhundert Norbert Gestring und Jan Wehrheim Urbanität ist ein schillernder Begriff, sowohl in der Wissenschaft als auch in der Alltagssprache. In der Architektur verbindet man mit Urbanität Häuser und Gebäudeensembles, in der Planung die Gestaltung von Straßen und Plätzen in Städten, in der Politikwissenschaft die Mitbestimmungschancen der Stadtbürger*innen, im Marketing die Imageproduktion von Städten, im Tourismus das Angebot an städtischen Events. In der Soziologie verbindet man mit Urbanität meist eine spezifisch großstädtische Lebensweise - die Liste ließe sich fortsetzen. Wie für den Begriff Integration gilt auch für Urbanität, dass man ihn nicht verwenden kann, wenn man nicht vermittelt, was man darunter versteht, da ansonsten jede*r etwas Anderes meint, wenn er oder sie über Urbanität kommuniziert (vgl. Selle in diesem Band). Hier soll es im Folgenden um Urbanität als Lebensweise gehen, also um den soziologischen Begriff. Der Versuch, einen soziologischen Begriff von Urbanität zu präzisieren, hat wiederum mindestens zwei Probleme zu bewältigen, soll der Begriff nicht nur als instrumentell-politischer, sondern auch als analytischer verwendet werden. Erstens kann es kein überhistorisch gültiges Verständnis von Urbanität geben, denn ganz offenkundig lassen sich die Lebenswirklichkeiten des Kaufmanns im mittelalterlichen Bremen, der Binnenwanderin im Slum von Mumbai, des Arbeiters in Berlin-Wedding in der Phase der Urbanisierung im 19. Jahrhundert und der Alleinerziehenden heute in Hamburg-Mümmelmannsberg nicht auf einen Begriff bringen. Zweitens ist auch die Stadt jeweils etwas anderes. Weber (2000 [1921]) beschrieb die mittelalterliche Stadt des Okzidents als das ganz andere, als das Gegenüber zum Land in ökonomischer und sozialer wie auch in räumlicher Hinsicht. In Westeuropa ist dieser Stadt-Land-Gegensatz seit der Industrialisierung und Urbanisierung im 19. Jahrhundert zunächst abgemildert und mit der fordistischen Modernisierung seit den 1950er Jahren abgelöst worden durch ein Stadt-Land-Kontinuum (vgl. Gestring 2013). Stadt und Land beschreiben heute keine kategorialen Gegensätze mehr in sozialer, ökonomischer, kultureller oder räumlicher Hinsicht, sondern Unterschiede gradueller Art im Sinne eines Mehr oder Weniger. Darüber hinaus ist auch das einheitliche Muster der Stadtentwicklung zerbrochen. In der Auseinandersetzung mit dem westdeutschen Süd-Nord-Gefälle in den 1980er Jahren ist deutlich geworden, dass es sich dabei im Kern um eine "Polarisierung der Stadtentwicklung" (Häußermann/Siebel 1987) zwischen weiterhin prosperierenden Städten auf der einen und schrumpfenden Städten auf der anderen Seite handelt. Zusätzliche Brisanz gewannen diese Befunde seit den 1990er Jahren als in Ostdeutschland die ökonomische Basis (nicht nur) den Städten mit der Wiedervereinigung entzogen wurde. Sind Städte nicht mehr gleichsam automatisch Innovations- und Wachstumsmotor, dann stellt sich unter anderem die Frage, wie Innovationen organisiert und in Planungsverfahren realisiert werden können (vgl. Ibert u.a. in diesem Band). Organisiert und geplant wird auch die Erinnerung in der und an die Stadt. Zur europäischen Stadt gehört die "Präsenz von Geschichte" (Siebel 2004). Ob historische Vorbilder Orientierungen bieten für aktuelle Fragestellungen, müsste erst noch ausgelotet werden. Stadtpolitik und -planung sind aber in jedem Fall gefordert, mit der materiellen wie immateriellen Seite der Stadtgeschichte umzugehen. Ihre Rekonstruktion oder Simulation erweist sich dabei als konflikthafter Prozess (vgl. Rodenstein und Voesgen in diesem Band). Im Folgenden streben wir nicht einen weiteren umfassenden geistesgeschichtlichen und/oder realgeschichtlichen Überblick über soziologische Urbanitätsbegriffe an (vgl. Krämer-Badoni 1991; Häußermann/Siebel 1992; Siebel 1998; Siebel 1994 sowie Hannemann in diesem Band), sondern versuchen im ersten Teil an die Klassiker anzuknüpfen, deren Konzepte für einen Begriff von Urbanität im 21. Jahrhundert fruchtbar gemacht werden können. Das Ziel ist nicht eine weitere Definition von Urbanität zu formulieren, sondern einen Rahmen zu präsentieren, innerhalb dessen Debatten über das Städtische verortet werden können. Denn sicher ist, dass eher Wandel und Konflikte das Feld der Urbanität charakterisieren als Kontinuität und starre Konzepte. Im zweiten Teil folgt eine Skizze einiger Dynamiken des Städtischen, die den Wandel und die Konflikte von beziehungsweise über Urbanität im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts kennzeichnen. 1. Ansätze zur Urbanität im 21. Jahrhundert Einer der meistzitierten Aufsätze der Stadtsoziologie ist Georg Simmels (1995 [1903]) kurzer Text über "Die Großstädte und das Geistesleben". Er untersucht darin den "Typus großstädtischer Individualitäten" (ebd.: 116), der Anfang des 20. Jahrhunderts ein historisch noch junges Phänomen war. Simmels Wohnort Berlin erlebte wie fast alle Städte zwischen 1871 und 1910 ein rasantes Bevölkerungswachstum: Die Einwohnerschaft wuchs von 820.000 auf über zwei Millionen, der Urbanisierungsgrad des Deutschen Reiches, das heißt der Anteil der Bewohner*innen, die in einer Stadt leben, stieg in diesem Zeitraum von 36 auf 60 Prozent (Reulecke 1985: 202). So waren auch die Herausforderungen und Zumutungen, mit denen die Großstädter*innen gezwungen waren umzugehen, historisch relativ neu. Die Vielzahl der Begegnungen und Eindrücke im öffentlichen Raum, die kalte Rationalität kapitalistisch geprägter Austauschbeziehungen, der Schub der Individualisierung in den Einwanderungsstädten, all das beschreibt Simmel einerseits ohne die Verteufelung konservativer Großstadtkritik wie sie Anfang des 19. Jahrhunderts in akademischen Kreisen en vogue war (vgl. Häußermann/Siebel 2004: 26ff.), andererseits aber auch ohne Sentimentalitäten und Beschönigungen. Simmel sieht seine Aufgabe nicht darin die Großstädte "[] anzuklagen oder zu verzeihen, sondern allein zu verstehen" (Simmel 1995 [1903]: 131). Seine Frage, wie die großstädtischen Lebensbedingungen zu ertragen seien, beantwortet er, indem er einen großstädtischen Sozialcharakter herausarbeitet, dessen Kennzeichen "Intellektualismus", "Blasiertheit" und "Reserviertheit" sind, die sich in den öffentlichen Räumen als distanziertes Verhalten äußern. Großstädter*innen wissen sich eingebunden in eine hoch differenzierte Arbeitsteilung, und sie lassen sich nicht durch ungewöhnliche Begegnungen beirren, die es den Einzelnen unmöglich machen, auf fremde Individuen einzugehen. Das ist für Simmel der Unterschied zu Bewohner*innen von Dörfern und Kleinstädten, aber er ist nicht ohne Risiko. "Denn die gegenseitige Reserve und Indifferenz [] werden in ihrem Erfolg für die Unabhängigkeit des Individuums nie stärker gefühlt, als in dem dichtesten Gewühl der Großstadt, weil die körperliche Nähe und Enge die geistige Distanz erst recht anschaulich macht; es ist offenbar nur der Revers dieser Freiheit, wenn man sich unter Umständen nirgends so einsam und verlassen fühlt, als eben in dem großstädtischen Gewühl; denn hier wie sonst ist es keineswegs notwendig, daß die Freiheit des Menschen sich in seinem Gefühlsleben als Wohlbefinden spiegele." (ebd.: 126) Für ein Verständnis von Urbanität sind zwei Aspekte hervorzuheben, die über den Befund des distanzierten Verhaltens im öffentlichen Raum hinausgehen. Erstens, Urbanität ist keine heile Welt, sondern auch anstrengend und riskant: Indifferenz, Vereinzelung, Gefühle der Einsamkeit, Freiheit ohne Wohlbefinden - solche Beschreibungen haben wenig zu tun mit dem Glamour urbanen Flairs (vgl. Keller in diesem Band). Wenn Walter Siebel von den "Zumutungen der Urbanität" (Siebel 2015: 278) schreibt, dann ist Simmel ein Gewährsmann dafür. Zweitens, der städtische Sozialcharakter Simmels schafft Freiräume für unterschiedliche Lebensstile auf engstem Raum, solange man sich darauf verlassen kann, dass auch die anderen die Distanzregeln einhalten, er ermöglicht Zugehörigkeit trotz...