Beschreibung
Wie lief das Leben mit Prothesen in der Frühen Neuzeit ab? Wer erstellte die künstlichen Leibesglieder, wie funktionierten sie? Mareike Heide geht in ihrer Studie von den handwerklichen Objekten selbst aus, die als funktionaler und ästhetischer Ersatz dienten, und gelangt dadurch zu einer neuen Interpretation des durch Krankheit oder Amputation versehrten Körpers der Frühen Neuzeit: Wurden Prothesen und deren Träger in öffentlicher Inszenierung als Symbole von Hilfsbedürftigkeit und Kuriosität negativ instrumentalisiert, so verschwand die Versehrung im institutionellen Umfeld hinter der Prothese und konnte zur sozialen Rehabilitierung beitragen.
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Autorenportrait
Mareike Heide studierte Geschichte und Politikwissenschaften an der Universität Hamburg.
Leseprobe
1. Einleitung 1.1 Relevanz und Fragestellung 'Das habe ich noch nie gehört. Wie kommt man dazu?'. 'Interessant. Wieso beschäftigt man sich mit so einem ernsten Thema, wenn man nicht selbst betroffen ist?'. 'Wie sind Sie denn darauf gekommen?' - Dies sind nur einige der frequently asked questions, wenn man sich der Disability History widmet. Dem ist entgegenzuhalten, dass Behinderung (und vor allem auch der Umgang damit) ein Thema ist, das die gesamte Gesellschaft etwas angeht - ob man selbst davon betroffen ist oder nicht. Zu betonen ist auch, dass Behinderung nicht gleich Behinderung ist. Inzwischen ist man zu der Erkenntnis gekommen, dass dieser Zuschreibung ein hoch komplexer und von vielen Einflüssen bestimmter, konstruktivistischer Prozess vorausgeht. Und dass Behinderung potentiell jeden betreffen kann. Doch in der Vorstellung vieler Menschen ist Behinderung 'zu weit weg', als dass sie Anlass hätten, sich damit auseinander zu setzen - oft wollen sie es auch bewusst nicht. Dabei leben wir in einer Zeit, in der Inklusion immer öfter thematisiert und eingefordert wird. 2008 trat die sogenannte Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN) in Kraft, 2010 verabschiedete die Europäische Kommission die sogenannte 'Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderung 2010-2020', um den in der UN-Konvention festgelegten Zielen eine konkrete Handlungsstrategie beizugeben. Ein Jahr vor Ablauf der definierten Frist zur Umsetzung ist allerdings noch wenig passiert. Weder konnte das Europäische Gesetz zur Barrierefreiheit er-folgreich auf den Weg gebracht werden, noch gab es Fortschritte hinsichtlich der Einführung eines EU-Behindertenausweises. Es bedarf noch wesentlich größerer Öffentlichkeit für das Thema Behinderung, um auch politisch mehr bewegen zu können. Sport erweist sich in diesem Zusammenhang als ein wertvoller Mittler. Mit der im letzten Jahrzehnt immer größer werdenden Popularität der Paralympischen Spiele erhielt auch das Thema Behinderung im Allgemeinen eine weitere wirkungsvolle Plattform, um noch immer existierende gesellschaftliche und strukturelle Probleme im Umgang mit Menschen mit Behinderung zu thematisieren. Die gestiegene Bekanntheit des Behindertensports spiegelt sich auch in der intensiveren Berichterstattung wider, in der auch das Leben und die Schicksale der Parasportler thematisiert werden. So erhalten auch mehr Menschen ohne Behinderung durch den Mittler Sport Einblick in die Lebensrealitäten von Menschen mit Behinderung. In Interviews und Print- sowie Fernsehberichten wird thematisiert, wie jemand mit seiner Behinderung aufwuchs oder nach einem Unfall mit seiner Behinderung zu leben lernte, welchen Hindernissen und Vorurteilen Betroffene gegenüber standen und stehen oder sogar, ob diese Person jemals mit seinem Schicksal haderte. Das Thema Prothesen oder prothetische Hilfsmittel wird dabei regelmäßig angesprochen: Ob es um die Frage geht, wie ein Hilfsmittel die eigene Wahrnehmung vom Grad der Beeinträchtigung beeinflussen kann - so berichtet Paralympicssiegerin Andrea Eskau beispielsweise: 'Mit dem Handbike fühle ich mich gleichberechtigt. Damit kann ich alles alleine machen []. Mit dem Schlitten bekomme ich sehr oft meine Unfähigkeit präsentiert.' - oder aber die Frage, inwieweit eine Prothese ihrem Träger Vorteile gegenüber Menschen ohne Behinderung verschafft, wie es im Fall der Teilnahme Oscar Pistorius an den Olympischen Spielen lange diskutiert wurde. So wird durch den Parasport zunehmend auch in der Öffentlichkeit präsent, was vor den 2000er Jahren meist nur für Betroffene und deren Angehörige bekannt war und sie beschäftigte. Dies ist ein wichtiger Schritt zu einer besseren Einbeziehung von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft. Dabei spielen Toleranz, Respekt und Akzeptanz auf beiden Seiten eine große Rolle. Persönliche Erfolgsgeschichten wie die von Vanessa Low oder David Behre sind in diesem Prozess ermutigend, aber auch Unterstützungsangebote sind essenziell. Denn was häufig vergessen oder in der Öffentlichkeit eben nicht ausreichend transportiert wird: Das erste Mal auf einer Prothese zu stehen, ist eine schwierige und schmerzhafte Angelegenheit. Vanessa Low beschreibt diese auch für sie überraschende Erkenntnis in einem Interview: '[] man denkt, die [die Prothesen; MH] funktionieren einfach. Man legt sie an und geht los. Da ist man schon enttäuscht, wenn man einsteigt und gleich fünf Mal auf die Nase fällt.' Eindringlich beschreibt auch David Behre seinen Weg nach dem Unfall: '[.] all die Operationen und Schmerzen, Anstrengungen und Rückschläge [].' Eine Prothese zu nutzen - egal, ob nun Arm-, Hand-, Bein- oder Augen-prothese - bedarf immer des Trainings und ist aufwühlend. 'Ich weiß nicht mehr, wie oft ich hingefallen und immer wieder aufgestanden bin und von vorne angefangen habe.' Physiotherapeuten, Ärzte, Orthopädietechniker, zuweilen auch Psychologen - eine Vielzahl von Menschen ist in den Prozess involviert, wenn es darum geht, einem Menschen den Umgang mit seiner Prothese zu lehren und zu erleichtern. All diese Angebote sind heutzutage in vielen Teilen der Welt integrativer Bestandteil der Therapie Amputierter und als solche keine Besonderheit mehr. Entwickelt haben sich diese 'Selbstverständlichkeiten' allerdings erst mit dem Aufschwung der Orthopädie ab dem 19. Jahrhundert. Wie erging es folglich Prothesen-trägern vor diesem Aufschwung? Mit welchen Unterstützungsangeboten durfte man rechnen, wenn man im 18., 17. oder 16. Jahrhundert geboren worden war? Woher bekam man in der Zeit zwischen Reformation und Französischer Revolution überhaupt eine Prothese? Und musste man damit rechnen, als 'Behinderter' aus der Gesellschaft ausgestoßen zu werden, weil man ein Holzbein trug? Inwieweit lässt sich zudem ein Mensch mit Prothese, der also seine Behinderung mit einem Hilfsmittel kompensierte oder verdeckte, in das frühneuzeitliche Konzept von Behinderung einordnen? Wurde er überhaupt als 'behindert' wahrgenommen? Eben diesen Fragen soll in der vorliegenden Arbeit nachgegangen werden. Auf Basis der Analyse gegenständlicher, bildlicher, literarischer sowie schriftlicher Quellen wird ein Bild der Lebenswelt eines Prothesen tragenden Menschen in der Frühen Neuzeit gezeichnet. Ins-besondere im Hinblick auf die Frühe Neuzeit erweist sich die Frage nach dem gesellschaftlichen Umgang mit Prothesen und Prothesenträgern als relevant, wurden doch in keiner anderen Epoche der Geschichte so viele Kriege in Europa geführt. Der Anteil von Menschen mit Behinderung an der europäischen Gesamtbevölkerung darf für die Frühe Neuzeit als relativ hoch angenommen werden, die gegenwärtigen Zahlen (circa 10 Prozent) dürfte er in jedem Fall übertreffen. 1.2 Stand der Forschung Bisher weist die Geschichtswissenschaft einen Mangel an Forschungen zu Menschen mit Behinderung und vor allem Prothesenträgern in der Frühen Neuzeit auf. Zwar stecken die wissenschaftlichen Disziplinen Dis/ability Studies ebenso wie die Dis/ability History nicht mehr in den Kinderschuhen, doch erweist sich gerade die frühneuzeitliche Epoche als weitgehend unberücksichtigt, wenn es um die Erforschung von Behinderung respektive ihren Auswirkungen - wie das Tragen einer Prothese - geht. Sehr treffend hat es Patrick Schmidt in seiner 2017 erschienenen Habilitationsschrift ausgedrückt, als er zum Forschungsstand hinsichtlich der Lebenslage körperlich und sensorisch beeinträchtigter Menschen im 17. und 18. Jahrhundert konstatiert: 'Es gibt kleine Wissensinseln in einem nach wie vor weithin unerforschten Ozean.' Das Interesse der historischen Wissenschaft an der Erforschung des Körpers, insbesondere von Körperbildern, erwachte in den 1990er Jahren und schlug sich in zahlreichen Aufsätzen und Zeitschriftenartikeln sowie einer Reihe von Sammelbänden nieder, deren Schwerpunkt auf der kulturwissenschaftlichen Analyse lag. Namentlich der Historiker Richard van Dülmen veröffentlichte zum Ende der 1990er Jahre zwei grundlegende Sammelbände mit kultur...