Beschreibung
Die Suche nach den Ursprüngen der 'modernen Welt' führt immer wieder ins 19. Jahrhundert zurück. Doch was ist das Besondere an diesem 'Schlüsseljahrhundert'? Inwiefern brauchen wir es, um unsere Gegenwart zu verstehen? Gibt es Parallelen zwischen dem 19. Jahrhundert und der Welt des 21. Jahrhunderts? Zwölf renommierte Historikerinnen und Historiker nehmen die Zeit zwischen 1789 und 1914 in diesem Buch neu in den Blick und loten anhand unterschiedlicher Themen und Methoden das Spezifische des 19. Jahrhunderts aus: die Rolle von Revolutionen und Emotionen, von städtischen Konflikten, von Monarchie und Liberalismus, von Religion und Attentaten, von Geschlechterverhältnissen und globalhistorischen Zusammenhängen.
Autorenportrait
Birgit Aschmann ist Professorin für Europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Leseprobe
'Das Säkulum der Widersprüche': Das 19. Jahrhundert und der Durchbruch der Moderne? Eine Einleitung Birgit Aschmann Wenn ein Buch über das 19. Jahrhundert den Titel Durchbruch der Moderne trägt, aber auf dem Einband eine von Caspar David Friedrich gemalte Dorfidylle zeigt - ist das nicht ein irritierender Widerspruch, eine Paradoxie? Doch, genau das ist es, und - damit sei ein Ergebnis des Bandes vorweggenommen - genau das macht das 19. Jahrhundert aus. Um den Reiz dieses an Widersprüchen reichen Jahrhunderts wahrzunehmen, muss man es neu in den Blick nehmen. Das war das Anliegen einer Ringvorlesung, die im Sommersemester 2018 an der Humboldt-Universität zu Berlin stattfand und deren Beiträge dieser Band dokumentiert. Die Zeit für eine Neubetrachtung ist günstig, schließlich ist das Jahrhundert wieder im Gespräch. Dabei ist es nur wenige Jahre her, dass die Experten ratlos vor einem wachsenden Desinteresse standen. Das 19. Jahrhundert schien so verstaubt, dass es - wie Suzanne Marchand 2002 schrieb - nachgerade 'peinlich' wirkte, sich damit 'hauptberuflich' auseinanderzusetzen. Aus ihrer Erfahrung in Princeton berichtete sie, dass sich seit den 1990er Jahren der Forschungstrend vom europäischen 19. Jahrhundert wegbewegt habe: 'Some things are interesting, and others not. And what was definitely not interesting any more was nineteenth-century Europe.' Ihr Eindruck wurde auf beiden Seiten des Atlantiks geteilt. Paul Nolte veröffentlichte 2006 unter dem Titel 'Abschied vom 19. Jahrhundert' einen vielbeachteten Aufsatz, dessen Ziel es war, die historiographische Krise zu erklären. Festgemacht wurde diese Krise immer wieder an dem signifikanten Rückgang von Qualifikationsschriften, Aufsätzen oder Konferenzbeiträgen, die dem 19. Jahrhundert gewidmet waren. Diese quantitative Evidenz ist nicht zu leugnen und bedarf einer Erklärung. Ursächlich war dafür wohl nicht zuletzt ein Zusammenspiel allgemeiner, methodischer und spezifisch nationaler Faktoren, die gemeinhin den Verlauf historiographischer Konjunkturen prägen. Dabei spielte zunächst der einfache Umstand eine zentrale Rolle, dass die Zeit voranschritt und damit das 19. Jahrhundert und die Gegenwart rein zeitlich immer weiter auseinandertraten. Oberflächlich betrachtet scheinen beide Zeiträume immer weniger miteinander zu tun haben. Die Interessen junger WissenschaftlerInnen wandten sich daher bevorzugt anderen Zeiträumen zu, zumal die Zeitgeschichte attraktive Alternativen bot. Diese Entwicklung wurde in Deutschland zusätzlich dadurch forciert, dass seit 1990 mit der Öffnung der DDR-Archive historiographisches Neuland von unbestrittener Gegenwartsrelevanz erschlossen werden konnte. Nicht nur die stetig wachsenden Bestände zur Geschichte der Bundesrepublik, sondern auch die zur DDR-Geschichte wurden so zur privilegierten Anlaufstelle vor allem von angehenden HistorikerInnen der späten Neuzeit, die sich nicht mit dem Nationalsozialismus beschäftigen wollten. Eine Beschäftigung mit dem 19. Jahrhundert wurde dagegen umso lässlicher, als es zur Erklärung der Genese des Nationalsozialismus entbehrlich schien. Auch im postnationalen Zeitalter spielen bei der Wahl von Forschungsthemen nationale Pfade eine Rolle: Favorisierte Themen stehen in einem - zuweilen komplexen - Zusammenhang mit gegenwartsbezogenen nationalen Selbstverständigungsprozessen. So ist der französische Blick auf das 19. Jahrhundert von einer spezifischen Revolutionswahrnehmung geprägt, und die britische Historiographie genießt dauerhaft den Rückenwind nationalen Stolzes, handelte es sich beim 19. Jahrhundert doch um das Säkulum, in dem Macht und Einfluss Großbritanniens ihren Zenit erreichten. Die deutsche Historiographie war nach 1945 bemüht, mit der Erforschung des 19. Jahrhunderts die nationalsozialistische Diktatur und den Völkermord des 20. Jahrhunderts zu erklären. So wurde das Interesse deutscher HistorikerInnen vor allem von der Frage geleitet, inwiefern die Strukturen des 19. Jahrhunderts unweigerlich in den Nationalsozialismus mündeten. Als jedoch die These vom deutschen Sonderweg erodierte und es immer weniger überzeugend schien, die Ursachen des Nationalsozialismus in den Deformationen des deutschen Bürgertums zu suchen, brach auch das Interesse am 19. Jahrhundert ein. 'Vergessen' war es schon deshalb nicht, weil die Schriften, die im Zuge der Forschungsverbünde über das Bürgertum entstanden waren, inzwischen ganze Regale füllten. Das 19. Jahrhundert erschien weniger 'vergessen' als vielmehr 'abgegrast'. Dass angesichts des enormen Ausstoßes an Publikationen in den 1980er und 1990er Jahren die Zahl der Veröffentlichungen in den darauffolgenden Jahren zurückging, kann niemanden wirklich verwundern. Zu guter Letzt trugen methodische Verschiebungen in der Geschichtswissenschaft zu einem Rückgang des Interesses bei. Hatte die Historische Sozialwissenschaft noch die Fundamentalprozesse wie Nationalisierung, Industrialisierung oder Urbanisierung in den Vordergrund gerückt, verlor die Geschichtsschreibung nach dem cultural turn das Interesse an derartigen Meisternarrativen, zumal die Modernisierungstheorien angesichts eines sich wandelnden Verständnisses von 'Moderne' ohnehin an Akzeptanz verloren. Weder die Annahme kontinuierlichen Fortschritts, noch die eines unmittelbaren Zusammenhangs zwischen dem 19. Jahrhundert und dem Holocaust waren durch die Empirie gedeckt. Die neuen methodischen Zugänge nach der kulturgeschichtlichen Wende wie Mikrogeschichte oder Historische Anthropologie reüssierten vorzugsweise in anderen Zeitepochen, etwa der Frühen Neuzeit. Es bedurfte erst einer neuen räumlichen Perspektive, um der Geschichtsschreibung zum 19. Jahrhundert neues Leben einzuhauchen: Es war die Globalgeschichte, der es abermals zu zeigen gelang, dass auch das 19. ein aufregendes Jahrhundert ist. Quasi als unmittelbare Antwort auf die Krisendiagnosen von Marchand und Nolte veröffentlichten Christopher A. Bayly das Buch Die Geburt der modernen Welt und Jürgen Osterhammel sein schnell zum Standardwerk avanciertes Opus magnum Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. Wie nur wenig andere Bücher dieses Formats (immerhin umfasst es mehr als 1.500 Seiten) wurde Osterhammels Buch nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen: Es erschien in mehreren Auflagen, wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und schließlich in einer Ausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung für jeden erschwinglich. Dass Bundeskanzlerin Angela Merkel den Autor mit der Aufgabe beehrte, anlässlich ihres 60. Geburtstags im Juli 2014 die Festrede zu halten, kann als Ausweis und zugleich weiterer Katalysator der Breitenwirkung seines Buches gelten. Mit Blick auf das (globale) 19. Jahrhundert hatte Osterhammel damit maßgeblich zu dem beigetragen, was er schon im Jahr 2003 prognostiziert hatte. Auf die damaligen Befürchtungen, dass das 19. Jahrhundert verlorengehe, hatte er mit der irritierten Frage geantwortet: 'Who ever lost a century?' Dass Jahrhunderte immer wieder aus dem Fokus der Wissenschaftler geraten, sei normal, zumal sich bei späteren Neubewertungen die Schwerpunkte wieder verschieben könnten: 'In the long run, periodic reevaluations tend to do justice to forgotten centuries.' Eine solche Neujustierung war mit dem globalgeschichtlichen turn erfolgt, und das 19. Jahrhundert kam unter neuen Akzenten und Fragestellungen wieder ins Spiel. Als Karen Hagemann und Simone Lässig im Dezember 2017 in der Zeitschrift Central European History ein 'Discussion Forum' über den Zustand der Historiographie über das 19. Jahrhundert herausgaben, stand daher hinter dem Titel 'The Vanishing Nineteenth Century in European History?' ein bezeichnendes Fragezeichen. Nahezu sämtliche Autoren und Autorinnen kamen zu dem Ergebnis, dass das 19. Jahrhundert für die Geschichte verschiedener Regionen einerseits und für diverse Forschungsansätze andererseits von fundamentaler Bedeutung sei. Für Großbritannien...