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Errötende Mörder

Roman

Erschienen am 22.08.2007
Auch erhältlich als:
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783608937305
Sprache: Deutsch
Umfang: 334 S.
Format (T/L/B): 3.1 x 21 x 13.5 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Drei Helden, die einen heiklen Punkt in ihrer Vergangenheit haben, ein seelisches Desaster. Sie erzählen vom Mann, von der Frau und vom sich zuspitzenden Verhältnis der Generationen. Niemand, der hier nicht an einem bestimmten Punkt seines Lebens dem Tod begegnete. Ein langes Wochenende in der Schweiz, mit Wandern und Lektüre ausgefüllt - so hat es sich der Kleinunternehmer Jobst Böhme aus Hamburg vorgenommen. Bald sitzt er auf einer Bank, unter den Himmeln der Bergwelt, und greift zum ersten der drei unveröffentlichten Manuskripte, die ihm ein befreundeter Schriftsteller mitgab. Doch schnell wird aus der Lesereise eine Odyssee in die Innenwelten dreier Figuren, eine Slalomfahrt durch die Psyche der Zeitgenossen. Denn die Helden dieser drei Geschichten, sie haben alle einen heiklen Punkt in ihrer Vergangenheit, ein seelisches Desaster. Und deshalb einen schwer ergründbaren Schuldkomplex, der ihnen als dunkle Macht in den verschiedensten Verkleidungen begegnet. Böhme, zuerst nur mäßig interessiert, wird hineingezogen in gefährdete Lebensverläufe, in schlechte Trips. Und auch er selbst beginnt, die Begegnungen seiner Reise zu fürchten. Das Unterste seiner harmlosen Seele kehrt sich nach oben. 'Der andere aber erstarrte durch Jobsts unerwartete Drehung mitten in der Attacke. So standen sie.'

Autorenportrait

Brigitte Kronauer, 1940 in Essen geboren, lebte als freie Schriftstellerin in Hamburg. Ihr schriftstellerisches Werk wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis der Stadt Berlin, mit dem Heinrich-Böll-Preis, dem Hubert-Fichte-Preis der Stadt Hamburg, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Jean-Paul-Preis ausgezeichnet. 2005 wurde ihr von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung der Büchner-Preis verliehen. Brigitte Kronauer verstarb im Juli 2019.

Leseprobe

'Pappkameraden!' Vor allem durfte er sich nichts anmerken lassen. Es war nicht schlimm, solange die anderen nichts witterten. 'Bis auf Natalja alles Pappkameraden. Und du, Böhme, du auch, du erst recht.' Er, Jobst Böhme, sah durch einen Spalt auf die Straße, die von seinem Geschäft aus leicht bergab zum Marktplatz führte. Seine Mutter hatte ihn vor bald einundvierzig Jahren unehelich in größter Verlegenheit zur Welt gebracht, als kleines Mädchen aber einstmals fröhlich in den Trümmern des Zweiten Weltkriegs ›Soldat auf Urlaub‹ mit einem Stock als Gewehr über der Schulter und ›Heimkehr aus dem Krieg‹ mit demselben Stock als Krücke gespielt, alles ohne größere Unglücke. Ihr Vater war, wie dessen Bruder, in der Nähe von Stalingrad vermutlich erfroren, vergilbte Todesangst, Todesfälle, von denen die Eltern der beiden Söhne nichts erfahren hatten, da sie zuvor in den Bombardierungen des Ruhrgebiets um gekommen waren, verbrannt, erstickt oder von Steinen erschlagen. Man besaß darüber keine Information oder erinnerte sich nicht mehr. Dem Urenkel dieser beiden, Jobst, gehörte im gut- und teilweise großbürgerlichen, etwas oberhalb des Stroms gelegenen Vorort einer norddeutschen Großstadt, in dem es seit einiger Zeit Mode oder gar Zwang geworden war, zu den Hochzeiten Feuerwerke zu veranstalten ('Feuerwerke am Fließband, es zischt und knallt das ganze Wochenende, sobald es dunkel wird. Die merken gar nicht, wie ordinär das ist', lachte Jobst im privaten Kreis und schickte das Wort 'großkotzig' etwas leiser hinterher), ein orierendes, nicht unelegantes Geschäft für Büroartikel und Anverwandtes. Da er durch Erbschaft Besitzer des Hauses war, mußte er keine ruinösen Mieterhöhungen befürchten. Ihn konnten die sich täglich vermehrenden Galgen der Immobilienrmen, inzwischen fast vor jedem zweiten Haus und Gebäude, nicht schrecken. Nur glaubte er seit einiger Zeit, im Grunde ein Karton zu sein. Junge Familien, von zu Geld gekommenen Eltern unterstützt oder durch den Beruf des Ernährers auf der Seite der schnell reich Gewordenen, führten sich mit hochglänzend gekachelten Terrassenanlagen und schematischen Säulenportalen auf, wie zu allem entschlossene, dem gemeinen Volk rechtmäßig entrückte Kleinfürsten. Man konnte zusehen, wie der Gegend ziemlich unvorteilhaft der Kamm schwoll. Jobst hatte das überraschend Geerbte mit kaufmännischem Geschick, mit wirklich überdurchschnittlichem Geschäftssinn genutzt. Ob ein gefüllter oder ungefüllter Karton, schien ziemlich gleichgültig. Er war zäh, gelenkig, ohne Größenwahn, ohne unmittelbare Konkurrenz und verläßlich zuvorkommend, was seinen Kunden im Zusammenhang mit einer Ladentheke als die schönste Form von Menschlichkeit erschien. 'Pappwände, alles Pappkameraden', sagte er sich, hörte es sich sogar laut aussprechen. Sein Gefühl war bräunlich. Dunkelocker? Asphalt? Nach zehnjähriger Ehe stand er unmittelbar vor der Scheidung von seiner Frau Ellen und vor einer ganz frischen Heirat, bei der es vermutlich ebenfalls nicht ohne Feuerwerk abgehen würde. Wenn er an Ellen zurückdachte, um seinen Entschluß ein letztes Mal zu überprüfen, el ihm nichts so prompt und abschreckend ein wie das Abspreizen ihrer kleinen Finger von der übrigen Hand, rechts wie links, so, als wäre sie heimlich zu Höherem erwählt, egal, ob sie Geschenkpapier verkaufte, einen Braten pfefferte oder an seinem Körper mal fraulich, mal hausfraulich herumstreichelte. In Wahrheit sah er gar nicht aus wie ein Karton, überhaupt nicht! Seine Freundin Natalja, eine junge Russin, vernarrt in Porzellan- und Stoffpuppen, ahnte nichts von diesen Flausen, hätte wohl runde Augen dazu gemacht und ihn in die Ohren gekniffen. Sie half bei ihm aus, bezaubernd, energisch, ein Gewinn für das Geschäft. Auch, vielmehr gerade, als seine Frau das nicht mehr mit ansehen wollte und sich zuerst vom Publikumsverkehr, dann von ihm, Böhme, zurückgezogen hatte, ging es blühend weiter mit Natalja und dem Umsatz. Ihr Vater, in Petersburg geboren, wie Natalja im mittlerweile dreihundertjährigen Sankt Petersburg, zwischendurch Leningrad, gebürtig, betrieb in einem anderen Stadtteil eine kleine Polsterwerkstatt, befestigte aber auch Gardinenstangen, tapezierte Wohnzimmer und reparierte Gartenzäune, machte eigentlich alles. Nataljas erster Freund im Westen war ein Key Account Manager gewesen oder Global Industry Manager. Sie verwechselte das gelegentlich und schlug sich dann schulmädchenhaft auf den Mund, was Böhme fast entzückte, dieses Natürliche an ihr, dieses leicht Östlich-Schlampige auch. Deshalb hatte er sie in der ersten Zeit, als sie ganz unkompliziert seine Geliebte geworden war, dort drüben, in dem Raum mit den PC-Modellen, häug nach diesen Liebhabern gefragt. Ihm geel die läppische Eifersucht, die sich in ihm regte, wenn sie sagte, ihr Allererster überhaupt sei Straßenmusikant gewesen, der beste Freund des Vaters aus der Heimatstadt. Er antwortete dann jedesmal dieser offenbar in allem gehorsamen russischen Tochter, er sei zwar nur gelernter Bilanzbuchhalter, würde sie aber eines Tages heiraten. Das sei ziemlich gewiß. Die eine 39, die andere 23 Jahre alt, erwog er gelegentlich auch. Und, wenn er zum Spaßen aufgelegt war: Wenn die eine 93 wird, wird die andere erst 32! Inzwischen schmiß Natalja den Laden. Sie verstand nichts von Technik, von Elektronik schon gar nicht, insofern blieb er völlig unangefochten der Boss. Aber das kontrolliert Schmuddelige, raffgierig Großzügige ihres Auftretens (und wie er längst wußte: auch ihres Körpers) zwischen den teuren Grußkarten, Seidenbändern, Spezialumschlägen zog Kinder, Herren mittleren Alters und greise Witwen gleichermaßen an. Sie betörte alle mit ihrer Stimme, diesem Akzent, diesem glucksend springlebendigen und ein klein bißchen melancholischen Vogelgezwitscher, betörte besonders ihn, Jobst. Sogar Ellen, der es nun endgültig Lebewohl zu sagen galt, war Nataljas Artikulationen ganz zu Anfang erlegen, und es kam ihm damals so vor, als hätte sie ihr blödsinniges Abspreizen des kleinen Fingers, mit dem sie ihn einmal vor vielen Jahren zu Beginn ihrer Bekanntschaft neugierig gemacht hatte, angesichts dieses gutgelaunten Naturkindes vergessen, bis sie dann, je mehr Böhme den Reiz Nataljas erkannte, rückfällig wurde und es, vielleicht zum demütigenden Zeichen westlicher Zivilisation gegenüber östlichem Barbarentum, ärger trieb als je zuvor. Wären doch bloß diese beiden Dinger an ihren Händen weggewesen! Gründe, eine Ehe zu beenden und sogar eine neue zu wagen? Kleine Finger hier und eine charmante Aussprache dort? Er sah aus dem Schaufenster weiter durch den Spalt zwischen den Kalendern und Postern auf die Straße. Vor einigen Wochen hatte er mit Natalja, um sie mit einer anderen Seite der Stadt zu verblüffen, einen Spaziergang durch ein Flußtal im Norden gemacht. Zu beiden Seiten des Wassers gab es noch schmale Streifen eines ursprünglichen Auwalds. Danach hatten sie in einer langgestreckten Einkaufspassage Kaffee getrunken. Konstruiert wie das Flußtal, mußte er die ganze Zeit denken. Oder war die Reihenfolge umgekehrt gewesen? Dann hatte er eben während der Wanderung immer gedacht: Angelegt wie eine Einkaufspassage! Auch war ja seine kleine Russin für ein Weilchen im einen Fall hinter einem Baum, im anderen auf der Toilette verschwunden. Die Leute strömten auf und ab. Gingen die zu einem Fest mit Körben und Taschen? Nein, zum möglichst malerischen Einkaufen auf dem teuren Wochenmarkt doch bloß. Er starrte auf das Wäschegeschäft gegenüber, dämlich vollgehängt mit faden Nachthemden, auf die Apotheke, die dringend trübselige Gratisuntersuchungen empfahl, auf die Parfümerie mit den bildhübschen Verkäuferinnen, die Düfte von oben bis unten ausströmten und auf den bei Ausgehwetter speziell von alten Damen gehätschelten Mann mit der Obdachlosenzeitung, der sich im Wind durch Einziehen des Kopfes immer in einen Marabu verwandelte. Alles an seinem Platz wie immer also. Nur dachte er jetzt: Taube, jawohl, ungefüllte Kartonage, auch w...

Schlagzeile

'Eine großartige deutschsprachige Autorin.' Denis Scheck, Druckfrisch

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