Beschreibung
Die zentralen Gedanken der genialen Erzieherin sind in diesem Buch niedergelegt. Die Entfaltung der Individualität des Kindes ist Montessoris oberstes Erziehungsziel. Sie betont den Selbstbildungstrieb der Kinder; die Erzieher sollen vor allem Hilfen zur Verfügung stellen. In der aktuellen bildungspolitischen Diskussion um die Fortentwicklung des Schulwesens finden die Grundgedanken der Montessori-Pädagogik immer stärkere Beachtung. Montessori hat sowohl moderne Unterrichtsformen als auch didaktisches Arbeitsmaterial entwickelt, die dem kindlichen Entwicklungs- und Forschungsdrang entgegenkamen und selbstbestimmtes Lernen ermöglichten. Sie definierte die Schüler- und Lehrerrolle neu, führte altersund leistungsgemischte Klassen ein. Ihre pädagogischen Prinzipien haben sich weltweit bewährt.
Autorenportrait
Maria Montessori, italienische Ärztin und Pädagogin, gilt heute als bedeutendste Erforscherin der frühen Kindheitsentwicklung. 1919 Gründung des Deutschen Montessori-Komitees. Die erste Montessori-Institution auf deutschsprachigem Boden entstand 1922 in Wien. 1949 wurde Maria Montessori für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.
Leseprobe
2. Kapitel Der Erwachsene als Angeklagter Wenn Freud im Zusammenhang mit den tiefsten Ursprüngen der beim Erwachsenen zutage tretenden seelischen Störungen von Unterdrückung spricht, so ist dies an sich bezeichnend genug. Das Kind kann sich nicht so frei entwickeln, wie es für ein im Wachstum begriffenes Lebewesen erforderlich wäre, und zwar deshalb, weil der Erwachsene es unterdrückt. Das Kind steht isoliert in der menschlichen Gesellschaft da. Wer auf das Kind Einfluss ausübt, ist für dieses nicht im abstrakten Sinne ein Vertreter der Welt des Erwachsenen, sondern verkörpert sich sogleich in derjenigen Person, die ihm am nächsten steht. An erster Stelle ist dies die Mutter, dann folgt der Vater, schließlich jeder andere Lehrer und Erzieher. Die Aufgabe, die diesen Erwachsenen von der Gesellschaft zugeteilt wurde, ist gerade das Gegenteil von Unterdrückung: Sie sollen das Kind erziehen und weiterbilden. So erwächst aus der seelischen Tiefenforschung eine Anklage gegen jene, die bisher für die Behüter und Wohltäter des Menschengeschlechtes galten. Sie alle werden plötzlich zu Angeklagten, und da so ziemlich alle Menschen Väter und Mütter sind und die Zahl der Lehrer und Erzieher groß ist, erweitert sich diese Anklage auf den Erwachsenen schlechthin, auf die menschliche Gesellschaft, die für die Kinder verantwortlich ist. Es ist etwas Apokalyptisches an dieser überraschenden Anklage, so als riefe die geheimnisvolle und schreckliche Stimme des Jüngsten Gerichtes: Was habt ihr mit den euch anvertrauten Kindern getan? Man ist geneigt, sich zu verteidigen, zu protestieren: Wir haben unser Möglichstes getan! Wir lieben die Kinder, wir haben für ihre Pflege jedes Opfer gebracht! In Wirklichkeit aber stehen zwei einander widersprechende Auffassungen da, von denen die eine bewusst ist, die andere jedoch aus dem Unterbewussten emporsteigt. Wir kennen die Argumente, mit denen der Erwachsene sich verteidigt; sie sind uralt, tief eingewurzelt und daher uninteressant. Viel interessanter ist die Anklage, besser gesagt, der Angeklagte selbst - jener Erwachsene, der sich eifrig zu schaffen macht, um Pflege und Erziehung der Kinder zu verbessern, und sich dabei immer tiefer in einem Irrgarten auswegloser Probleme verliert. Dies darum, weil er den Irrtum nicht kennt, den er in sich selbst trägt. Wer für das Kind eintritt, muss dauernd diese anklagende Haltung gegen den Erwachsenen einnehmen und darf hierbei weder Nachsicht walten lassen noch Ausnahmen machen. Und plötzlich wird diese Anklage ein Mittelpunkt von außerordentlichem Interesse. Sie richtet sich nämlich nicht gegen bewusste Unterlassungsgründe, die eine demütigende Unzulänglichkeit der Erzieher verraten würden, sondern gegen unbewusste Irrtümer. Damit dient sie einer erweiterten Selbsterkenntnis und macht den Menschen reicher, wie denn alles das Wesen des Menschen bereichert, was zu irgendwelchen bis dahin unbekannt gebliebenen Entdeckungen im seelischen Bereich führt. Zu allen Zeiten hat deshalb die Menschheit ihren Fehlern gegenüber eine zwiespältige Haltung eingenommen. Jedermann ärgert sich über seine bewussten Fehler, während die unbewussten ihn anziehen und faszinieren. Unbewusster Irrtum enthält einen Schritt zur Vervollkommnung über die bis dahin bekannten Grenzen hinaus, und seine Erkenntnis erhebt auf ein höheres Niveau. Der Ritter des Mittelalters war stets bereit, jedes kleinste Wort der Anklage, das sein bewusstes Handeln betraf, zum Anlass für einen Zweikampf zu machen; gleichzeitig aber warf er sich demütig vor dem Altar nieder und erklärte: Ich bin ein Sünder und bekenne vor aller Welt meine Schuld. Die biblische Geschichte gibt interessante Beispiele für dieses Verhalten der Menschen. Was veranlasste das Volk von Ninive, sich um Jonas zu scharen, was rief die Begeisterung hervor, mit der alle, vom König bis zum Bettler, dem Propheten nachfolgten? Jonas schalt sie verhärtete Sünder und verkündigte ihnen, Ninive werde untergehen, wenn sie sich nicht bekehrten. Und wie redete Johannes der Täufer am Ufer des Jordans die Menge an? Mit welchen gewinnenden Worten lockte er sie in solchen Scharen herbei? Natterngezücht nannte er sie alle. Welch ein geistiges Phänomen: Menschen, die herbeieilen, damit sie hören, wie jemand sie anklagt; und wir sehen diese Menschen enthusiastisch ihre eigene Schuld bekennen. Es gibt harte und beharrliche Anklagen, die das Unbewusste aus seiner Tiefe emporziehen und es mit dem Bewussten verschmelzen. Alle geistige Entwicklung besteht in solchen Eroberungen des Bewusstseins, welches etwas in sich aufnimmt, das zuvor außerhalb von ihm war. Nicht anders spielt sich der Fortschritt der Zivilisation auf der Bahn immer neuer Entdeckungen ab. Wollen wir nun das Kind anders behandeln als bisher und wollen wir es vor Konflikten bewahren, die sein Seelenleben gefährden, so ist zuvor ein grundlegender, wesentlicher Schritt erforderlich, von dem alles Weitere abhängt: Es gilt, den Erwachsenen zu ändern. Dieser Erwachsene behauptet ja, bereits sein Möglichstes zu tun, das Kind zu lieben, ihm jedes Opfer zu bringen. Damit gesteht er, an der Grenze seiner bewussten Fähigkeiten angelangt zu sein, und es bleibt ihm somit nichts anderes übrig, als den Schritt über den Bereich des Bekannten, Willentlichen und Bewussten hinaus zu versuchen. Unbekanntes gibt es auch im Kinde. Von einem Teil seines Seelenlebens haben wir bisher nichts gewusst und diesen gilt es zu erforschen. Es sind da wesentliche Entdeckungen zu machen, denn es gibt nicht nur das Kind, das von Psychologen und Erziehern beobachtet und studiert worden ist; es gibt auch ein von niemandem beachtetes Kind - beide in derselben Person. Dieses verborgene und verkannte Kind gilt es ausfindig zu machen und dazu bedarf es einer Begeisterung und Opferwilligkeit ähnlich jener, mit der die Goldsucher in die fernsten Länder vordringen. Alle Erwachsenen müssen an diesem Entdeckerwerk mithelfen, ohne Unterschied des Standes, der Rasse oder der Nation; handelt es sich doch um nichts Geringeres als um die Auffindung eines für den moralischen Fortschritt der Menschheit unerlässlichen Elements. Bisher hat der Erwachsene das Kind und den Halbwüchsigen nicht verstanden und deshalb liegt er mit ihnen in ständigem Kampfe. Das kann nicht dadurch anders werden, dass der Erwachsene mit der Vernunft neue Kenntnisse erwirbt, dass er gewisse Bildungsmängel beseitigt. Nein, es handelt sich darum, einen völlig anderen Ausgangspunkt zu finden. Der Erwachsene muss den in ihm selber liegenden, bisher unbekannten Irrtum entdecken, der ihn daran hindert, das Kind richtig zu sehen. Kein Schritt nach vorwärts ist möglich, solange diese vorbereitende Erkenntnis nicht gewonnen ist und solange wir nicht die Haltungen erworben haben, die sich aus ihr ergeben. Diese innere Einkehr ist gar nicht so schwierig, wie es den Anschein hat. Denn unser Irrtum ist uns zwar nicht bewusst, aber er bewirkt doch in uns eine ständige, schmerzhafte Beklemmung, und das Bedürfnis nach Abhilfe weist uns bereits den Weg. Wer sich den Finger verstaucht hat, empfindet das Bedürfnis, ihn ausgestreckt zu halten, denn er weiß instinktiv, dass er diesen Finger nicht gebrauchen darf, wenn der Schmerz sich legen soll. So spüren wir auch den Drang, unser Gewissen auszurichten, sobald wir erkannt haben, dass wir uns falsch verhalten; denn mit dem Augenblick dieser Erkenntnis werden das Bewusstsein unserer Unzulänglichkeit und der Kummer darüber unerträglich, die wir bis dahin ertragen haben. Von da an ist alles ganz einfach: Sobald in uns die Überzeugung erwacht ist, dass wir uns überschätzt und uns mehr zugetraut hatten, als wir zu leisten berufen und in der Lage sind, interessiert es uns und wird es uns möglich, die Wesenszüge solcher Seelen zu begreifen, die, wie die Seelen der Kinder, von den unseren verschieden sind. Der Erwachsene ist in seinem Verhältnis zum Kind egozentrisch - nicht egoistisch, aber egozentrisch. Alles, was die Seele des Kindes ...
Schlagzeile
'Die große Pädagogin, der ein Nobelpreis für Erziehung gebührt hätte' Deutsche Rundschau