Beschreibung
Das Neue ist immer und überall. Aber in Europa, während der Renaissance, entstand diese Gier nach Neuem, dies systematische Suchen, dies Finden- und Erfindenwollen. Das war etwas Neues und eben der Unterschied zu China, wo man bekanntlich das Schießpulver erfunden hat - aber daraus entstand keine innovative Dynamik. Das Neue und die Sucht danach steht am Beginn der Moderne und damit am Beginn der europäischen Eroberung der Welt, die mittlerweile ihr Ende gefunden hat und auch in der erweiterten Form des "Westens" nun in Frage gestellt wird. Europa jedenfalls hat sich mental von seiner aggressiven Neugier verabschiedet, stattdessen werden Bewahren und Konservieren als humanes Modell gegen den zerstörerischen Kapitalismus angelsächsischer Prägung in Stellung gebracht - was vom Eintritt Chinas und Indiens in die globale Dynamik zu halten ist, ob dort das Neue im emphatischen Sinn entstehen wird, bleibt abzuwarten. Neugier ist ein Grundmotiv europäischen Denkens, das Neue ist die Denkfigur der Moderne: Das Merkur-Doppelheft (Nr. 712/713) erscheint Mitte September.
Autorenportrait
Karl Heinz Bohrer, geboren 1932, Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Bielefeld, seit 1984 Herausgeber des MERKUR. Veröffentlichungen: Die gefährdete Phantasie (1970), Die Ästhetik des Schreckens (1978), Ein bißchen Lust am Untergang (1979), Plötzlichkeit (1981), Der romantische Brief (1987), Nach der Natur (1988), Der Abschied (1996), Die Grenzen des Ästhetischen (1998). Kurt Scheel, geboren 1948, studierte Germanistik, Politische Wissenschaft, Soziologie in Hamburg, München, Berlin. 1977 bis 1980 DAAD-Lektor für deutsche Literatur und Sprache an der Universität Hiroshima. Ab 1980 Redakteur, seit 1991 Herausgeber des Merkur. 1998 ist erschienen Ich & John Wayne.
Leseprobe
Ausschnitte aus dem Doppelheft September/Oktober 2008, Nr. 712/713 Neugier. Vom europäischen Denken Welchem Wunder ist es zu danken, dass sich die Welt so dramatisch zugunsten des Westens verändert hat? Woher bezieht Europa sein Wohlstandsprivileg? Es ist die Schicksalsfrage der Menschheit: Warum wurde die Menschheit gerade um das Jahr 1800 aus der Malthusianischen Falle befreit? Und warum hat sich die Wohlstandsrevolution nur in Europa ereignet? Neues Wissen allein ist dafür zwar eine notwendige, aber längst keine hinreichende Bedingung. Denn neues Wissen mag zwar seinem Erfinder zur intellektuellen Freude gereichen - solange es nicht fruchtbar wird, nützt es der übrigen Menschheit gar nichts. Das Wunder der plötzlichen europäischen Wachstumsgeschichte bleibt Deutungsaufgabe: Es geht gerade nicht nur um die Frage, wie das Neue in die Welt kommen konnte. Entscheidend für Wachstum und Wohlstand ist, wie es kommen konnte, dass das Neue einen fruchtbaren Nährboden fand. Keine Frage: Es sind die Ideen, die Wohlstand schaffen. Doch nicht alles, was eine Idee ist, ist auch von Relevanz. Häufig sind wir noch nicht einmal in der Lage, die mögliche Relevanz des Neuen zu erkennen. Schon die Römer wussten sehr viel über die optischen Eigenschaften des Glases - warum haben sie dann nicht die Brille erfunden? Wie konnte sich dagegen aus Newtons Gravitationsgesetzen die klassische Mechanik entwickeln, und wie konnte diese zur Grundlage der Sicherheitstechnik im modernen Automobilbau (und vielem mehr) werden? Offenbar müssen aus Erfindung und Entdeckung Innovationen werden, soll das Neue Wirkung entfalten. Ob Wissen fruchtbar werden kann, wird ganz entscheidend beeinflusst von den Chancen der Menschen, Teilhabe an diesem Wissen zu erwerben. Mit anderen Worten: Die wirtschaftliche Bedeutung relevanten Wissens ist abhängig von den Zugangskosten. Denn auch für das Wissen braucht es Märkte. Wo es für Wissen eine Nachfrage (und einen Preis) gibt, bilden sich Anreize für Wissensproduzenten, sich neue Ideen einfallen zu lassen. Solche Märkte können, wie alle Märkte, effizient oder weniger effizient sein. Sie können monopolistisch, oligopolistisch oder wettbewerblich organisiert sein. Das alles hat entscheidenden Einfluss auf die Zugangskosten, also die Preise, welche für die Partizipation an den Innovationen gezahlt werden müssen. Anbieter und Nachfrager beziehen daraus die Signale, ob weiteres Nachdenken, Forschen und Ideenproduzieren sich lohnen könnte. "Intellektuelle Unternehmer", die Produzenten solch neuen Wissens, werden ihre Ideen zu Markte tragen, um die Öffentlichkeit von deren Relevanz zu überzeugen. Es gibt die einen, die neue Ideen verkaufen, indem sie andere von deren Wahrheitsgehalt zu überzeugen suchen. Andere machen sich neue Ideen zu eigen, indem sie aus den vorhandenen intellektuellen Menüs das ihnen Gemäße und Nützliche auswählen. Kurzum: Die industrielle Revolution nach 1800 fiel nicht vom Himmel. Dass die Menschheit der Malthusianischen Falle entkommen konnte, ist auf explodierende Wissensmärkte vor 1800 zurückzuführen. Seit dem 15. Jahrhundert hatten sich dort nicht nur die Angebotsbedingungen - die Anreize zur Wissensproduktion - entscheidend verbessert, auch die Nachfrage nach relevantem Wissen nahm rapide zu, was an den dramatisch sinkenden Zugangskosten liegt. Der Wissenssprung der Menschheit ist eine Folge von Marktöffnung. Offene Märkte sind immer ein Segen für die Menschheit. Das zeigt sich nicht zuletzt an den Wissensmärkten in der europäischen Moderne. Besonderes Verdienst gebührt Francis Bacon (1561 bis 1626), der zum Propheten einer "industriellen Aufklärung" wurde, vertrat er doch die Auffassung, dass Wissen sozial und kollektiv organisiert und verteilt werden müsse und dass es dessen prometheischer Zweck sei, von der Gesellschaft zur Steigerung des Wohlstands angewandt zu werden. Rainer Hank, Was weiß der Markt schon Neues? Im Blick au
Schlagzeile
Die Gier nach dem Neuen oder Wie Europa die Welt eroberte