Beschreibung
Nach der lang ersehnten Unabhangigkeit vom ins Taumeln geratenen Riesen stürzt der junge georgische Staat ins Chaos. Zwischen den feuchten Wanden und verwunschenen Holzbalkonen der Tbilisser Altstadt finden Ende der 1980er Jahre vier Madchen zusammen: die freiheitshungrige Dina, die kluge Außenseiterin Ira, die romantische Nene, Nichte des machtigsten Kriminellen der Stadt, und die sensible Qeto. Die erste große Liebe, die nur im Verborgenen blühen darf, die aufbrandende Gewalt in den Straßen, die Stromaus-alle, das ins Land gespülte Heroin und die Gespaltenheit einer jungen Demokratie im Bürgerkrieg - allem trotzt ihre Freundschaft, bis ein unverzeihlicher Verrat und ein tragischer Tod sie schließlich doch auseinandersprengt. Erst 2019 in Brüssel, anlasslich einer großen Retrospektive mit Fotografien ihrer toten Freundin, kommt es zu einer Wiederbegegnung. Die Bilder zeigen ihre Geschichte, die zugleich die Geschichte ihres Landes ist, eine intime Rückschau, die sie zwingt, den Vorhang über der Vergangenheit zu heben und eine Vergebung scheint moglich.
Autorenportrait
Nino Haratischwili, geboren 1983 in Tbilissi/Georgien, ist preisgekronte Theaterautorin, -regisseurin und Romanautorin. Ihr großes Familienepos 'Das achte Leben (Für Brilka)', in 25 Sprachen übersetzt, avancierte zum weltweiten Bestseller, eine große internationale Verfilmung ist in Vorbereitung. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Anna-Seghers-Literaturpreis, dem Bertolt-Brecht-Preis und dem Schiller-Gedachtnispreis, ihr Roman 'Die Katze und der General' stand auf der auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2019. Ihr neuer Roman 'Das mangelnde Licht' wurde bereits vor Erscheinen in 15 Lander verkauft. Die Autorin lebt in Berlin.
Leseprobe
Tbilissi, 1987 Das Abendlicht verfing sich in ihren Haaren. Sie würde es schaffen, gleich würde sie auch dieses Hindernis überwinden, ihren Körper mit voller Wucht gegen das Gitter pressen, bis es ihrem Gewicht nur noch einen schwachen Widerstand leisten, leicht aufstöhnen und nachgeben würde. Ja, sie würde dieses Hindernis nicht nur für sich, sondern auch für uns drei durchbrechen, um ihren unzertrennlichen Gefährtinnen den Weg ins Abenteuer freizumachen. Für den Bruchteil eines Moments hielt ich den Atem an. Mit aufgerissenen Augen schauten wir auf unsere zwischen zwei Welten stehende Freundin: Dinas einer Fuß verharrte noch auf dem Gehsteig der Engelsstraße, der andere ragte bereits in den dunklen Innenhof des Botanischen Gartens; sie schwebte zwischen dem Erlaubten und dem Verbotenem, zwischen dem Kitzel des Unbekannten und der Monotonie des Vertrauten, zwischen dem Weg nach Hause und dem Wagnis. Sie, die Mutigste von uns vieren, öffnete uns eine geheime Welt, zu der sie allein uns Zugang verschaffen konnte, weil für sie Gitter und Zäune keine Bedeutung besaßen. Sie, deren Leben im letzten Jahr des bleiernen, kranken und nach Luft ringenden Jahrhunderts an einem Strick enden sollte, improvisiert aus dem Seil eines Gymnastikrings. In jener Nacht aber, viele ahnungslose Jahre vom Tod entfernt, war ich gebannt von einem allumfassenden Gefühl, das ich nicht genau einordnen konnte. Heute würde ich es vielleicht einen Rausch nennen, ein Geschenk, das einem das Leben so vollkommen unvorbereitet macht, dieser winzige Schlitz, der sich selten genug zwischen der ganzen hässlichen Alltäglichkeit, der ganzen Schwerstarbeit des Lebens öffnet und der einen erahnen lässt, dass hinter all dem Allzugewöhnlichen doch so viel mehr steckt, wenn man es bloß zulässt und sich von Zwängen und vorbestimmten Mustern löst, um den entscheidenden Schritt zu tun. Denn ohne es recht zu begreifen, ahnte ich bereits damals, dass sich mir dieser Moment für immer ins Gedächtnis einprägen und sich mit der Zeit in ein Sinnbild des Glücklichseins verwandeln sollte. Ich spürte, dass dieser Moment magisch war, und das nicht, weil etwas im eigentlichen Sinne Besonderes geschah, sondern weil wir in unserem Zusammenhalt eine unzerstörbare Kraft bildeten, eine Gemeinschaft, die vor keiner Herausforderung mehr zurückschrecken würde. Ich hielt den Atem an und beobachtete, wie Dina durch das Gitter in den Hof hineinbrach, mit diesem frohlockenden, triumphalen Gesichtsausdruck. Und auch ich wähnte mich für einen Moment als Herrscherin über jedes Glück und jede Freude, als Königin der Wagemutigen, denn ich war für einen Augenblick sie, Dina, meine tollkühne Freundin. Und nicht nur ich, auch die beiden anderen wurden zu ihr, teilten dieses Gefühl von Freiheit, das lauter Versprechen zu bergen schien, wartete hinter diesen rostigen Streben doch eine ganze Welt nur darauf, von uns erkundet und erobert zu werden, eine Welt, die sich uns zu Füßen legen wollte. Wir näherten uns der alten Umzäunung des Botanischen Gartens, bestaunten das von Dina vollbrachte Wunder, während sie selbstzufrieden zu uns herübersah, als wolle sie Applaus und Anerkennung dafür, dass sie unseren Zweifeln zum Trotz recht behalten hatte, dass uns nämlich dieses vom Rost zerfressene Gitterstück an der Engelsstraße den idealen Durchschlupf bot, um das große und langersehnte Abenteuer zu beginnen. Na, wird es endlich?, rief sie uns von der anderen Seite zu, und eine von uns, ich weiß nicht mehr, welche, legte den Zeigefinger auf die zusammengepressten Lippen und stieß ein sorgenvolles Psst! hervor. Das Licht einer einsamen Laterne auf der Straßenseite gegenüber fiel auf Dinas Gesicht, sie hatte Spuren von Rost auf beiden Wangen. Ich machte den ersten Schritt, überwand mit dem Schwung meines rechten Beins die Angst und die Aufregung, unmöglich zu sagen, was überwog. Ich drückte mich fest an Dina, die mir das Gitter so gut es ging auseinanderhielt, blieb mit dem Haar an einer der sich kräuselnden und sinnlos abstehenden Drahtschlingen hängen, befreite mich schnell wieder und taumelte dann auf den Innenhof. Dafür erntete ich ein wohlwollendes Kopfnicken und ein verschmitztes Dina-Lächeln. Durch die bestandene Mutprobe angestachelt, rief ich den beiden Nachzüglerinnen zu, sie sollten sich beeilen. Jetzt war ich Teil von Dinas Welt, Teil der Welt der Abenteuer und Geheimnisse, jetzt durfte auch ich so selbstzufrieden aus der Wäsche gucken. Ich meinte, Nenes Herzklopfen bis zum Eingang des Tunnels zu hören, der wie ein weit aufgerissenes, gähnendes Maul vor uns lag, als wollte er sagen: Ja, ihr glaubt wohl, all eure Ängste überwunden zu haben und schon weit gekommen zu sein, aber das wahrhaft Schauerliche liegt noch vor euch, noch gibt es mich in meiner ganzen dunklen Betonpracht voller Ratten, nicht zu vergessen die gefährlichen Strömungen und alptraumhaften Geräusche. Ich wandte meinen Blick von dem schwarzen Betonloch ab und konzentrierte mich darauf, Nene und Ira in den Innenhof zu locken. Obwohl der beginnende Regen mir nicht gerade Mut machte, verjagte ich meine Sorgen angesichts der noch langen Strecke bis zu unserem eigentlichen Ziel. Ein Auto fuhr vorbei. Nene duckte sich instinktiv. Dina begann zu lachen. Sie denkt bestimmt, ihr Onkel sucht bereits nach ihr, und wenn er sie nicht gleich findet, hetzt er ihr seine Hyänen auf den Hals. Mach ihr doch nicht noch mehr Angst!, beschwor sie Ira