Beschreibung
Wann sie damit anfingen, die Toten zu rufen, weiß im Nachhinein niemand so genau. Es begann doch als harmlose Jugendfreizeit auf dem Hof, aber dann wurden die Spiele der Kinder immer beunruhigender. Bis zu jener Nacht, von der sich die, die sie überlebten, bis heute noch nicht erholt haben. Ein Schatten, der sich im lichtverschmutzten Hongkong zu verselbständigen beginnt. Ein Boxer, der gegen einen teuflisch guten Gegner kämpft. Eine verhängnisvolle Begegnung mit einem Erlkönig der Neuzeit oder ein Schachspiel mit einem Toten: Christiane Neudeckers Geschichten erzählen von dem winzigen Spalt, der sich von Zeit zu Zeit in unserem hoch technisierten Dasein auftut - sie versetzen mit hypnotischer Spannungskunst das Genre der unheimlichen Erzählung von E.T.A Hoffmann bis Daphne du Maurier in unsere moderne, nur scheinbar durchrationalisierte Welt.
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Autorenportrait
Christiane Neudecker, geb. 1974, studierte Theaterregie an der "Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch" und lebt als freie Schriftstellerin, Librettistin und Regisseurin in Berlin. 2005 erschien ihr begeistert aufgenommenes Erzähldebüt "In der Stille ein Klang", 2008 ihr erster Roman "Nirgendwo sonst", 2010 "Das siamesische Klavier - Unheimliche Geschichten". Sie wurde für ihr Schreiben mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet. Für den 2013 erschienenen Roman "Boxenstopp" erhielt sie das Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds, die 2015 erschienene "Sommernovelle" war NDR Buch des Monats. Seit 2001 arbeitet sie mit dem Künstlernetzwerk phase7 zusammen. Die Deutsche Oper Berlin eröffnete 2013 mit Neudeckers Libretto zu "Himmelsmechanik - eine Entortung" ihre Spielzeit.
Leseprobe
Sie haben es im Urwald entdeckt. Bestimmt war es eingesponnen in einen Kokon aus Schlingpflanzen, dachte ich erst, von Lianen umringelt, mit Bananenstauden verwachsen und von kleinen ?fchen und herumbaumelnden Faultieren bewohnt. Oder es war halb im Morast versunken und nur noch das obere Drittel lugte neben misstrauisch dreinblickenden Alligatoren aus dem Schlamm.Ich habe mir vorgestellt, wie es da seit Jahren im Dschungel herumsteht. Die Pedale mit Pilzflechten und Froschlaich ?berzogen, die abartige, gedoppelte Klaviatur von Termiten zerfressen und auf dem Resonanzboden: lauter Wasserschlangennester. Vielleicht wurde auch sein ganzer Korpus in die H?he gehoben, weil sich unter ihm die langsam wachsenden Stelzwurzeln der umstehenden B?e aufeinanderschachtelten, h?her, immer h?her hinauf, bis es schlie?ich in einer der riesigen Baumkronen aufkam und da oben einfach sitzen blieb. Irgendwer ist dann mit seiner Motors? zum Abholzen anger?ckt und der staunte nicht schlecht, als mit tiefem St?hnen der Baum zur Erde sank und zwischen dem Krachen und Splittern der brechenden ?te und dem Kreischen aufflatternder Papageien pl?tzlich ein anderes, ein ganz anderes Ger?ch zu h?ren war: ein dissonanter Akkord. Da stand dann der Holzf?er und kratzte sich am Kopf. Er legte die S? zur Seite und bog die Zweige auseinander, krabbelte auf den riesigen, nachzitternden Stamm und folgte dem langsam ausklingenden Ton. So fand er es. Es hing in einem Nistplatz aus Bl?ern und verflochtenen ?ten, seine Klappen waren aufgeflogen, der Mechanikbalken verzogen. Die Saiten waren nat?rlich verrostet, ein paar von ihnen hatten vielleicht dem Aufprall nicht standgehalten. Sie waren mit lautem Schnalzen gerissen und hatten im Peitschflug zwar nicht den Holzf?er, aber immerhin ein paar aus den Zweigen aufsteigende Riesenlibellen erlegt.Aber so war es nat?rlich nicht. So einen Sturz h?e es ja niemals ?berlebt. Wobei: der tats?liche Fundort klingt mindestens genauso erlogen. Wahrscheinlich basteln sie sich schon einen Mythos. Wer wei? wo sie es wirklich herhaben, dieses merkw?rdige Klavier. Man kann niemandem mehr trauen.Ihre Version ist mindestens genauso unglaubw?rdig: bei einer Urwald-Expedition, behaupten sie, kamen ein paar deutsche Touristen abhanden. Deren einheimischer F?hrer, irgendein glut?iger Brasilianer namens Gonzales, hatte sich mit einer mitreisenden Dame mal eben kurz ins Farnkraut geschlagen - vorgeblich um ihr eine besonders seltene Orchideenart zu er?rtern -, und als die beiden mit erhitzten Gesichtern zur?ckkamen, war von den Teilnehmern der Expedition nur noch die H?te da. Gonzales raufte sich die schwarzen Locken, schickte Klagelaute in die feuchte Urwaldluft und sank dann an einen hinter ihm befindlichen Mangrovenbaum, um sich fortan nicht mehr zu r?hren. Auch die eilige Versicherung der ?brigen Teilnehmer, dass weder Leoparden noch Anakondas schuld an der Minimierung der Gruppe seien, sondern lediglich ein ungesundes Ma?an Neugier und Erkundungslust, konnte Gonzales nicht dazu bewegen, die abtr?nnigen Mitglieder wieder einzufangen. Ratlos stand man also um den nun still vor sich hinbr?tenden Gruppenleiter herum. Wie sich erst sp?r herausstellte, war ihm sowas schon einmal passiert - allerdings mit ungleich ungl?cklicherem Ausgang - und er f?rchtete nun um seine Einnahmequelle und das Wohl seiner Frau und seiner zehn Kinder (?Frau??, rief die mitreisende Dame emp?rt). Wie dem auch sei: da es langsam d?erte und die ersten hungrigen Nachttiere im Waldgeh?lz zu rumoren begannen, schulterte einer der Teilnehmer, ein resoluter Schlachtermeister aus Kulmbach, den erschlafften Gonzales, griff sich dessen Machete und stapfte voran. Dass er keine Ahnung hatte, wo er hinging, zeigte sich, als die Gruppe wenig sp?r vor einem irgendwie quadratisch aussehenden, aus dem Humusboden aufquellenden H?gel stand. Gerade wollte man zur Umrundung des Hindernisses ansetzen, als Gonzales pl?tzlich seinen Kopf vom Hintern des Schlachtermeisters hob und verwundert Leseprobe
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