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Lerche

Roman

Erschienen am 17.09.2007
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783717521440
Sprache: Deutsch
Umfang: 299 S.
Format (T/L/B): 1.6 x 15.5 x 9.6 cm
Einband: Leinen

Beschreibung

Das Drama eines ungelebten Lebens Dieser ungarische Fin-de-siècle-Klassiker führt uns in den Randbezirk der glanzvollen Donaumonarchie. Die fiktive Provinzstadt Sárszeg, fernab aller mondänen k.u.k-Herrlichkeit, dient als Kulisse eines psychologischen Kammerspiels, das der Autor mit verhaltenen Tönen und sparsamen Gesten höchst effektvoll zu inszenieren weiß. Zum ersten Mal seit langen Jahren sind die Eheleute Vajkay unter sich. 'Lerche', wie sie ihre längst erwachsene Tochter noch immer zärtlich nennen, ist der Einladung von Verwandten zur Sommerfrische auf dem Lande gefolgt - ein wahrhaft unerhörtes Ereignis im sonst so gleichförmigen Einerlei des häuslichen Alltags zu dritt. Öd und leer scheint den betagten Eltern das Haus ohne die geliebte Tochter. Nur widerwillig, da die gewohnte Hilfe im Haushalt fehlt, entschließt man sich zu einem Restaurantbesuch - und findet zum eigenen Erstaunen Geschmack sowohl am Essen wie an der Gesellschaft. Das Experiment wird wiederholt, und allmählich taucht das Paar wieder ein ins bewegte Leben der Kleinstadt, von dem es sich so lange abgeschottet hatte. Lerche hingegen, das unansehnliche, altjüngferliche Mauerblümchen, verbringt freudlose Ferientage und schreibt, statt sich zu amüsieren, pflichtschuldig lange Briefe an die Eltern. Mit feiner Ironie und bestechender Exaktheit im Detail schildert Kosztolányi den unerwarteten Aufbruch der Daheimgebliebenen. Einen bestürzenden Moment lang erkennen die Eltern, wie sehr ihnen die eigene Tochter zur Last geworden ist, und doch sehnen sie den Tag herbei, an dem 'ihr kleiner Vogel zu ihnen zurückfliegt'. Kaum je wurde das Drama familiärer Abhängigkeiten so schonungslos und dabei mit solcher Leichtigkeit dargeboten.

Leseprobe

Auf dem Sofa im Eßzimmer lagen rotweißgrüne Kordeln, Enden von Paketschnüren, Papierfetzen und ein zerrupftes Exemplar der Lokalzeitung, die auf dem Titelblatt in dicken Lettern die Aufschrift trug: 'Anzeiger der Gemeinde Sárszeg, 1899'. Der Wandkalender neben dem Spiegel gab im starken Schlaglicht Tag und Monat an: 1. September, Freitag. Die Pendeluhr ihrerseits, die in ihrem schnitzereiverzierten Glasgehäuse tickte und mit ihrem Messingpendel den endlos scheinenden Tag in kleine Stückchen schnitt, zeigte die Stunde: halb eins. Im Eßzimmer waren Vater und Mutter beim Packen. Sie kämpften mit einem abgewetzten braunen Koffer. Nachdem sie den enggezahnten Kamm in die Leinentasche des Mittelteils gesteckt hatten, machten sie ihn zu und stellten ihn auf den Boden. Da stand er reisefertig, prallgefüllt, mit einem beidseits ausladenden Bauch wie die Katze, die demnächst Neune wirft. Nur in den Reisekorb auf dem Tisch legten sie noch das eine und andere: die Spitzenunterhose, die Bluse, die Filzpantoffeln, den Schuhknöpfer, alles von ihrer Tochter schon sorglich herausgelegt. 'Die Zahnbürste', sagte Vater. 'Ach ja, die Zahnbürste', sagte Mutter, 'fast wär' sie dageblieben, die Zahnbürste.' Kopfschüttelnd eilte sie in den Flur hinaus und von dort ins Mädchenzimmer, um die Zahnbürste vom emaillierten blechernen Waschtisch zu holen. Vater betätschelte noch einmal die Sachen, streichelte sie zärtlich, damit sie schön glatt aufeinanderlagen. Sein Schwager, Béla Bozsó, hatte sie schon mehrmals für den Sommer eingeladen, zum Ausruhen auf seinem Gut in Tarko. Inmitten der nicht besonders großen, hundert Joch umfassenden Puszta erhob sich zwischen wackeligen Wirtschaftsgebäuden das 'Schloß' mit seinen drei Zimmern und einem geräumigeren Anbau, dem Gästezimmer, an dessen getünchte Wände, Jagdgewehre, Geweihe sie sich gut erinnerten. Viele Jahre waren sie nicht mehr dort gewesen, aber Mutter erwähnte häufig das 'Gut' und auch den kleinen, sich am Fuß des Hügels zwischen Schilf und Binsen hindurchschlängelnden Bach, auf dem sie einst als Kind Papierschiffchen fahren ließ. Die Reise wurde immer wieder verschoben. Dieses Jahr aber hatte jeder Brief aus der Puszta damit geendet, daß sie doch endlich kommen sollten, so bald wie möglich kommen. Im Mai hatten sie endlich beschlossen, den Besuch zu machen. Doch wie üblich war der Sommer über dem Anlegen der Wintervorräte vergangen, dem Einmachen von Marmeladen, dem Zubinden der Gläser mit den Weichseln und Kirschen. Ende August schrieben sie, sie seien wieder einmal zu Hause steckengeblieben, es falle ihnen eben nicht leicht wegzufahren, auch seien sie schon alt, würden aber stattdessen für eine Woche ihre Tochter schicken. Die habe sowieso viel gearbeitet und könne ein bißchen Ruhe gebrauchen. Die Verwandten nahmen die Nachricht freudig auf. Täglich kam Post. Onkel Béla und seine Frau, Tante Etelka, schrieben Briefe an die Tochter, die Tochter beantwortete sie, die Mutter schrieb der Schwägerin, der Vater dem Schwager, den er bat, persönlich mit dem Wagen an der Station zu warten, das Gut lag ja eine Dreiviertelstunde Fußmarsch entfernt. Alles wurde abgemacht. Am letzten Tag kreuzten sich dennoch Telegramme, die auch noch die winzigsten Einzelheiten klärten. Die Reise ließ sich nicht mehr aufschieben. Mutter kam zurück, in der Hand die Zahnbürste. Vater wickelte sie sorglich in Seidenpapier. Noch einmal blickten sie sich im Zimmer um, und als sie sahen, daß sonst nichts mehr herumlag, drückten sie den Deckel auf den Korb. Bloß griff der Schlüssel nicht, das Schloß klickte immer wieder auf, und so banden sie den Korb mit Paketschnur zu, während sich Vater mit seinem schmächtigen Brustkasten auf ihn legte, daß ihm die Stirnadern schwollen. An diesem Tag waren sie alle drei früh aufgewacht, hatten sogleich mit dem Packen begonnen oder waren vor Aufregung auch einfach nur umhergeirrt. Nicht einmal zu Mittag essen konnten sie in Ruhe, weil ihnen fortwährend no Leseprobe

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