Beschreibung
Ein wunderbarer Roman, um sich darin zu verlieren und erst nach der letzten Seite beglückt wieder aufzutauchen! The Historical Novels Review
Autorenportrait
Adele Geras ist eine der renommiertesten Autorinnen Englands. Seit 1976 hat sie mehr als 90 Jugendbücher geschrieben, die vielfach ausgezeichnet wurden. Ihre Bestseller "Sommerlicht" und "Die Windtänzerin" eroberten im Sturm die Herzen ihrer erwachsenen Leserinnen. Geboren 1944 in Jerusalem, wuchs Adele Geras unter anderem in Nigeria, Borneo und Gambia auf. Sie studierte Französisch und Spanisch in Oxford und arbeitete als Sängerin und Französischlehrerin. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Manchester.
Leseprobe
Woran erinnere ich mich? An ein Fenster. Daran, wie ich von einem hohen Fenster auf die Straße hinuntersehe. Man hat mir den Namen dieser Straße beigebracht, für den Fall, dass ich verloren gehen sollte und jemanden bitten müsste, mich nach Hause zu bringen. Rue Lavaudan. In der Nacht muss Schnee gefallen sein, denn alles ist weiß, bis auf das glänzende, schwarze Dach eines riesigen Autos. Ich weiß noch, wie alt ich in dieser Szene aus meiner Erinnerung bin, denn dies ist der Tag, an dem man meine Mutter beerdigen wird. Gerade erst hatte ich meinen fünften Geburtstag gefeiert. Man hat mir nicht erlaubt, mit auf die Beisetzung zu gehen, ich muss unter der Aufsicht eines der jüngeren Hausmädchen hier bleiben. Seit Maman gestorben ist, hat meine Großmutter krank vor Kummer im Bett gelegen, und mir war - wie lange, weiß ich nicht, aber es kommt mir vor, als wäre es eine lange Zeit gewesen - verboten worden, in ihrem Zimmer zu spielen. An diesem Tag jedoch, dem Tag, an den ich mich erinnere, ruft sie mich endlich zu sich und flüstert: 'Sei nicht traurig, mein Liebling.' Sie trägt ein Halsband aus glänzenden schwarzen Perlen und einen schwarzen Hut mit Schleier. Sie hat geweint. Trotz des getupften Tülls, der ihr Gesicht verhüllt, sehe ich, wie rot ihre Augen sind. 'Deine Mutter wird dich vom Himmel aus beschützen.' Sie drückt mir die Hand. Woran erinnere ich mich? Ich erinnere mich, überlegt zu haben: Maman mag im Himmel ja vielleicht glücklich sein, aber mich hat sie zurückgelassen. Sie kann mich nicht wirklich lieben. Denn ich kenne keine Mutter, die es vorgezogen hat, wegzugehen, um stattdessen bei den Engeln zu sein. Vielleicht bin ich als Kind nicht brav genug gewesen, um sie hier bei mir zu behalten; sie wird wohl irgendwo anders glücklicher sein. Dieser Gedanke bringt eine mir ganz neue Traurigkeit mit sich - eine Traurigkeit, die ich so bisher nie erlebt hatte, als wäre mein ganzer Körper plötzlich in Grau, Kummer und Kälte getaucht worden. Selbst als diese Qual ein wenig nachgelassen hat, spüre ich Klümpchen jenes Elends noch immer in meinem Blut, in meinen Knochen, meiner Haut und den Augen, wie feinen Kies, und ich weiß, dass sie nie ganz verschwinden werden. Das Dach des Wagens. Der von oben betrachtete schwarze Hut meines Vaters und Grand-meres schwarzer Hut daneben. Die Hüte, die im Wagen verschwinden, und das Auto, das wegfährt. Der Rest jenes Morgens ist gänzlich aus meiner Erinnerung verschwunden, aber der Gedanke daran lässt ein Gefühl der Kälte in mir zurück. Dann sitze ich in Grand-meres Schlafzimmer. Ich hocke auf einem kleinen Schemel neben ihrer Chaiselongue. Meinem Schemel. Ich liebe diesen Platz. Meine Großmutter hat zahllose Schachteln voller Juwelen, die sie herausholt und auf der Satinsteppdecke ausbreitet. Wir spielen Prinzessin und Königin, und ich darf fast alles anprobieren. Die großen Ringe halten nicht an meinen Fingern, aber Schnüre aus Perlen und Bernstein und Anhänger aus Quarz und Amethyst, und vor allem ein funkelndes Diadem, das mir als Krone dient. Selbst jetzt noch erinnere ich mich an jede Einzelheit. Aber an diesem Nachmittag ist Grand-mere ernst. Nicht in Spiellaune. Sie zieht mich zu sich heran. Ich kann ihre Haut riechen, sie duftet wie Rosen und Sonnenschein. 'Estelle', sagt sie, 'ich muss dir etwas sagen. Es ist wichtig, dass du mich verstehst, denn eigentlich bist du noch zu jung ...' Ihre Stimme bricht, und sie zieht von irgendwo in ihrem Ärmel ein Taschentuch hervor und wischt sich eine Träne ab. Seit meine Mutter weggegangen ist, um bei den Engeln zu sein, weint sie viel, und ich auch - jeden Tag, wenn ich aufwache und mir klar wird, dass Maman nie mehr in mein Zimmer kommen wird. 'Ich werde dich verstehen, Grand-mere. Ich bin doch schon ein großes Mädchen', sage ich. 'Ich weiß. Und ein kluges Mädchen obendrein. Dann sieh dir das an.' Sie öffnet eine Schublade und holt eine rote Lederschachtel heraus. Sie öffnet sie. Drinnen lieg ...