Beschreibung
"Es ist ein Kennzeichen großer Literatur, dass sie sich dem Gedächtnis einprägt wie etwas selbst Erlebtes, vielleicht sogar noch besser einprägt, weil sie eine Präzision des Ausdrucks besitzt, wie es sie im Alltag selten gibt. Wir glauben, in der Literatur etwas wiederzuerkennen, ohne es selbst so klar formulieren zu können. Imre Kertész' Erzählung Protokoll, eine Zugfahrt im Jahr 1991 von Budapest in Richtung Wien, traf mich aber auch deshalb, weil sie mir bewies, dass Charakter und das, was wir verschämt ,ein großes Herz' nennen, für die Literatur eben doch entscheidend sind. Péter Esterházys Erzählung Leben und Literatur beschreibt die gleiche Zugfahrt ein Jahr später. Der Ich-Erzähler trifft auf kaum veränderte Umstände, doch sein Umgang mit der Grenze und ihren Kontrolleuren ist ein anderer. Im Vergleich werden auf so tragische wie komische Art und Weise Prägungen evident, die man leichthin Generationserfahrungen nennt. Was diese Unterschiede aber Tag für Tag, Stunde um Stunde bedeuten, das begreift man vielleicht hier. Und zugleich erzählt Péter Esterházy davon, wie irritierend es ist, wenn man erlebt, wie das Leben die Literatur nachahmt. Diese Behauptung ließ sich leicht in eine Aufforderung umdeuten, selbst den Zug von Budapest nach Wien zu nehmen. Ich wollte, mir der Vermessenheit durchaus bewusst, meine Erfahrungen mit denen der beiden bewunderten Schriftsteller vergleichen, um mehr über mich selbst und unsere Zeit zu erfahren. Heute sind die Grenzen für EU-Europäer nicht nur durchlässig, sondern geradezu unsichtbar geworden. Doch für jene, die sie nicht passieren dürfen, sind die Grenzen nach wie vor unüberwindbar, nur dass wir jene Grenzgänger kaum noch sehen wollen und sie damit zu Unsichtbaren werden." Ingo Schulze
Autorenportrait
Ingo Schulze wurde 1962 in Dresden geboren. Von 1983 bis 1988 studierte er Klassische Philologie in Jena und arbeitete anschließend als Dramaturg am Landestheater in Altenburg. Im Herbst 1989 verließ Ingo Schulze das Theater, um als politischer Journalist zu arbeiten. 1993 lebte er für ein halbes Jahr in St. Petersburg, wo er half, ein Anzeigenblatt redaktionell aufzubauen. Für sein Debüt »33 Augenblicke des Glücks« erhielt Ingo Schulze 1995 u. a. den Förderpreis des Alfred-Döblin-Wettbewerbs sowie den aspekte-Literaturpreis. Der New Yorker druckte 1997 drei Erzählungen aus dem Band ab - eine Ehre, die unter den deutschsprachigen Autoren zuletzt Max Frisch zukam - und ließ ihn im April 1998 als einen der »Five Best European Young Novelists« von Richard Avedon porträtieren. Für seinen zweiten Erzählband »Simple Storys« erhielt er 1998 den Berliner Literaturpreis. 2001 wurde Ingo Schulze, zu gleichen Teilen mit Thomas Hürlimann und Dieter Wellershoff, der Joseph-Breitenbach-Preis verliehen. In dem Briefroman »Neue Leben«, in dem er ästhetisch neue Wege geht, erwartet den Leser ein breit angelegtes Panorama des Jahres 1989 und seiner Folgen. »Neue Leben« wurde in die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2006 gewählt. Kulturstaatsminister Bernd Neumann vergab im Juni 2006 an Ingo Schulze das Massimo-Stipendium 2007, das für einen einjährigen Aufenthalt in der Villa Massimo in Rom steht. Im März 2007 erhielt Schulze für seinen Erzählungsband »Handy« den Preis der Leipziger Buchmesse. Mit »Adam und Evelyn« stand er 2008 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Ingo Schulze ist Mitglied der Akademie der Künste Berlin und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Seine Bücher wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt.