Beschreibung
Regelmäßig und nicht nur zur Karlspreisverleihung wird Karl der Große euphorisch beschworen. Selbst nüchterne Historiker ergehen sich dann gerne in Lobeshymnen auf den "Vater Europas" und preisen Karl als Vermittler antiker Kultur und Gelehrsamkeit. Und doch hat Karl nicht eine einzige öffentliche Schule gegründet, keine Wissenschaftsdisziplin gefördert, kein einziges Theater eröffnet und nicht eine öffentliche Bibliothek finanziert. Vor und nach ihm liegt die städtische Kultur am Boden, die Menschen hausen in armseligen Holz-Baracken, entleeren ihre Notdurft auf den Straßen, und Paris ist ein Müllhaufen. Statt Bildung, Wissenschaft und Kultur erlebt man Karls Handeln und seine Gesetze nur allzu oft als unversöhnliche Theologie, die unverhohlen droht: "Sterben soll, wer Heide bleiben will". Nicht zuletzt deshalb führt er sein ganzes Leben lang Kriege, fördert Bischöfe und Klöster nach Kräften und wird von der Kirche im Gegenzug selig und sogar heilig gesprochen. Karl ist weder "Leuchtturm", noch "Vater Europas". Sein Denken und Handeln stehen im krassen Gegensatz zu allem, was Europa Gesicht und Farbe verleiht, und hat mit dem Europa, wie wir es heute verstehen, mit der Fähigkeit zum demokratischen Diskurs, mit Kritik und Kompromiss, mit Toleranz, mit kultureller Vielfalt und freiem Denken nicht das Geringste zu tun. Europa ist anders. Es gilt, mit den traditionell gepflegten Karlslegenden aufzuräumen und mit einer Figur, die nicht als Vorbild taugt.
Autorenportrait
Rolf Bergmeier (Jg. 1940) ist studierter Philosoph und Althistoriker. Forschung und publizistische Tätigkeit zur spätantiken, christlichen und arabischen Kultur im frühen Mittelalter. Monografien zur antiken Kultur, zur Entwicklung des Christentums in der Spätantike und zu den Ursachen des weitgehenden Untergangs der antiken Kultur. Bergmeier engagiert sich im Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung.
Inhalt
Einleitung
1. Der Rahmen: Das antike und mittelalterliche Sozialmilieu
Antike: Das Mäzenatenparadies
Jahrtausendwende. Das katholische Christentum wird Staatskirche
Das verschwiegene Religionschaos im 4. Jahrhundert
Bischöfe - die neue Führungsschicht
Zusammenfassung
2. Karl im Konjunktiv
Mundus vult decipi - Die Welt will betrogen werden
Bildung, Wissenschaft und Gelehrte in der Karl-Literatur
Zusammenfassung: Kritik als Ausweis der Wissenschaftlichkeit
3. Karl. Sein Hof und sein Wirken
Gelehrte Männer
Die"Hofakademie"
Gipfel der Gelehrsamkeit: Karl und Aristoteles
4. Das Schulwesen
Karl, Mäzen des klösterlichen Schulsystems
Vom Wesen der fränkischen Klosterschulen
Zusammenfassung: Klosterschulen sind keine Volkshochschulen
5. Karl und die Bibliotheken
Die Klosterbibliotheken
Kataloge und Verzeichnisse mittelalterlicher Klosterbibliotheken
Karls Hofbibliothek
Karolingische Buchkunst
Die Klosterbibliotheken im Schatten antiker und arabischer Sammlungen
6. Karolingische Architektur
7. Karl und die Ökonomie
Grundlage: Das Capitulare de villis
Die fränkische Wirtschaftsverfassung
Karls feudales Gesellschaftsmodell
Die feudale Ordnung. Zusammenfassung
Der große Gewinner: Die Kirche
Fazit: Ein Hühner zählender Herrscher mit einer Residenz in der Provinz
8. Ein Analphabet reformiert Sprache und Schrift
Latein - Kirchensprache, Herrschaftssprache, Ausschlusssprache
Karl und die Reform der Schrift
9. Karls Walten, ein Entwurf für Europa?
Karl und die Errichtung eines christlichen Staates
Karls Handwerk ist der Krieg
Wie in aller Welt kann man Karl zum"Vater Europas" machen?
10. Das lateinsprachige Mittelalter wartet auf die"Wiedergeburt"
Epilog. Die Versuchung gefälliger Geschichtsschreibung
Anlagen
Zwischenruf. Der Karlspreis
Anmerkungen
Bibliografie
Personen- und Sachregister
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