Beschreibung
"Ich habe so gut wie nichts von dieser Insel im Nordatlantik gewusst. Islandponys waren mir ein Begriff, Vulkane, Geysire, Gletscher. Dieses Klischee vom Land aus Feuer und Eis. Na, und dann brach dieser Vulkan unter dem Gletscher mit dem unaussprechlichen Namen Eyjafjallajökull aus und legte den Flugverkehr in fast ganz Europa lahm." Island das Land der Märchen und Volkssagen. In 16 Kurzgeschichten lässt die Autorin Islands märchenhafte Landschaft aufleben: einsame Dörfer, von verschneiten Bergen umrahmte Fjorde und moosbedeckte Lavafelder. Vor diesem Hintergrund entfalten sich berührende Geschichten aus dem isländischen Alltag Momentaufnahmen, die uns Einblicke in die Gedanken und Gefühlswelt der Menschen dort gewähren und zum Nachdenken anregen. Die oft melancholisch anmutenden Geschichten handeln von Liebe, Alltagsflucht, Einsamkeit, Familie und Heimweh, Begegnungen zwischen Deutschen und Isländern oder solchen, die sich als ein bisschen von beidem verstehen.
Autorenportrait
Brigitte Bjarnason wurde 1959 in Hamburg geboren. Sie wuchs in der Hansestadt auf und machte dort eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau. Während eines Austauschjahres in Island 1982/83 lernte sie ihren Mann kennen. Gemeinsam mit ihm und ihren drei Kindern lebt sie seit 1992 auf der Insel, seit einigen Jahren in Hafnarfjörður, einem Vorort von Reykjavik. Bjarnason übersetzte isländische Volkssagen ins Deutsche und veröffentlichte im Jahr 2000 das Elfensagenbuch "Dort, wo die Elfenkönigin wohnt" sowie mehrere Artikel, die in der Zeitschrift "Island" erschienen. In ihrer Freizeit schreibt sie überwiegend Kurzgeschichten und Geschichten für Kinder. In einigen ihrer Geschichten greift sie auf eigene Erfahrungen zurück, die sie selbst auf Island gemacht hat, wie z.B. die Arbeit in der Fischfabrik, als Postbotin und im Altenwohnheim. Zurzeit arbeitet sie in einer Bibliothek.
Leseprobe
Die Lawine: Der frischgefallene Schnee knirscht wie Pappe unter meinen Schneestiefeln. Nach dem Schneesturm, bei dem man gestern nicht einmal einen Hund nach draußen getrieben hätte, herrscht heute Abend eine fast beunruhigende Windstille. Der Schnee dämpft die Geräusche aus dem Ort, sodass es ungewöhnlich friedlich auf der Zufahrtstraße ist. Ich hielt es nicht mehr aus in meinem beengten Hotelzimmer, musste mich bewegen und frische Luft atmen. Es hat mich beruflich nach Neskaupstad verschlagen, denn seit ein paar Monaten arbeite ich als Vertreter für Elektrogeräte. Meine Firma wollte, dass ich dem Inhaber des kleinen Elektrogeschäftes vor Ort unsere Artikel vorstelle. Dass ich ausgerechnet Anfang Dezember hierher geschickt wurde, gefiel mir gar nicht. Die Straße ist leer. Ich bin allein unterwegs. Von Weitem sehe ich die Lichter der Häuser und Straßenlaternen. Die meisten der knapp 1400 Einwohner haben schon ihre bunten Weihnachtslichterketten draußen in den Gärten oder drinnen in den Fenstern aufgehängt, um die Dunkelheit der Winters erträglicher zu machen. Hier auf der Straße hellt nur der Schnee notdürftig die Schwärze der einbrechenden Nacht auf. Ich bleibe stehen. Über mir tanzt das Nordlicht in seinem Regenbogenkleid einen wilden Tanz. Dieses Spiel der Lichterstreifen nimmt mich auf magische Weise gefangen. In eleganten Bewegungen und mit leisem Zischen schwirrt es über den rabenschwarzen Nachthimmel. Außerhalb des Lichtermeeres der Stadt, kann man das Nordlicht besonders gut beobachten. Ja, jetzt hätten sich die Touristen gefreut, die für viel Geld eine Nordlichtreise gebucht haben. Da sich aber nicht einmal im Sommer Urlauber in diesen abgelegenen Ort verirren, ist es unwahrscheinlich, heute hier einen Ausländer zu treffen. Die Touristen hätten sowieso ein falsches Bild zu sehen bekommen. Sie würden denken, dass es immer so still und friedlich an diesem Fjord im Osten ist: Nordlicht, Schnee, ein klarer Sternenhimmel und Berge, die sich idyllisch im Mondlicht auf der Wasseroberfläche spiegeln. Ich aber weiß es besser. Ich bin in Neskaupstad aufgewachsen und kenne die Gnadenlosigkeit der isländischen Natur. Es war der 20.Dezember 1974. Ein Tag wie jeder andere. In der Fischfabrik war gegen Mittag der letzte Fisch verarbeitet worden. Die Angestellten, die an den Fließbändern die Filets nach Würmern durchleuchteten oder, wie ich, Dorschen und Kabeljau den Bauch aufschlitzten und sie von ihren Innereien befreiten, wurden nach Hause geschickt. Es lag Schnee. Viel Schnee. Seit Tagen hatte es geschneit. In der Nacht zuvor tobte ein schwerer Schneesturm. Ich hatte mich, nachdem ich von der Arbeit gekommen war, nach dem Mittagessen kurz hingelegt. Als ich aufstand und aus dem Fenster schaute, hatte das Leben der Menschen in dem sonst eher ereignislosen Neskaupstad eine Kehrtwendung genommen. Panikartig liefen Erwachsene und Jugendliche mit Schaufeln bewaffnet in Richtung Fischfabrik, die ein Stück außerhalb des Ortskernes lag. Ich spürte plötzlich ein Unwohlsein in der Magengegend und schaltete das Radio ein. Zwei Lawinen waren kurz hintereinander den Berg hinuntergestürzt. Die erste hatte die Fischfabrik erwischt, die zweite hatte ein Wohnhaus getroffen und es in das Meer gefegt. 800 bis 900 Meter soll die Lawine breit gewesen sein. Ein Augenzeuge berichtete, dass es aussah, als ob ein Teil der Bergkette in den Fjord gerutscht wäre. Kurz darauf fiel der Strom aus. Meine Mutter und ich waren wie gelähmt, während wir stundenlang auf Nachricht von meinem Vater warteten. Er arbeitete in der Autowerkstatt dicht bei der Fischfabrik. Erst gegen Abend rief das Krankenhaus an. Er war am Leben. Sein Kollege hatte ihn kurz nach der ersten Lawine warnen können. In dem Moment, wo er die Werkstatt verließ, zerstörten die heranstürzenden Schneemassen das Haus. Er selbst wurde mitgerissen, konnte sich aber, nachdem die Lawine stoppte, selbst aus dem Schnee graben. Mein Cousin wurde erst zwanzig Stunden später geborgen. Er war mit Aufr