Beschreibung
'Die eigentlich bewegenden Reisen sind jene, die in die Vorstellung oder in die Vergangenheit führen.' Wolf Jobst Siedler In einem seiner eindringlichsten Texte zieht es Wolf Jobst Siedler noch einmal in die Vergangenheit. Seine melancholische Wanderung durch Geschichte und Gegenwart der Mark Brandenburg lässt das verloren geglaubte Land seiner Vorfahren wieder aufleben. Wolf Jobst Siedler wandert in Fontanes geliebter Mark Brandenburg, wobei er mehr das Land als die Geschichte sucht - die alten Städte zwischen Elbe und Oder und die dunklen Seen mit den Kiefernwäldern, die sie umgeben. Doch ihn zieht es noch tiefer in das verwunschene Land zwischen Kurischem Haff, wo Thomas Mann einst ein Sommerhaus besaß, und der alten Festung Graudenz, in der Fritz Reuter gefangen saß. Immer verbindet Wolf Jobst Siedler dabei das Allgemeine mit dem Persönlichen, denn er begibt sich auf die Spuren der eigenen Familie, die hier über Generationen hinweg zu Hause war. Dabei gelingt ihm etwas Seltenes und Kostbares: Siedlers Text zeugt von Geist, der als Eleganz daherkommt, und er bietet Wissen, das sich nonchalant gibt - Essayistik im großen Stil. Schön gestaltete und liebevoll illustrierte Neuausgabe.
Autorenportrait
Wolf Jobst Siedler, 1926 geboren, wurde in den fünfziger Jahren einer der bedeutendsten Publizisten und Verleger Deutschlands. Fast zwanzig Jahre lang leitete er die Verlage Ullstein und Propyläen sowie von 1980 bis 1998 den von ihm gegründeten Siedler Verlag. Siedler trat durch zahlreiche Essays und Bücher auch selbst als Kritiker und Kommentator der politischen Zustände Deutschlands hervor. Zu seinen wichtigsten Büchern zählen "Die gemordete Stadt" (1964), "Auf der Pfaueninsel" (1986), "Abschied von Preußen" (1991) und seine Erinnerungen "Wir waren noch einmal davongekommen" (2004). Sein Werk wurde mit einer Vielzahl von Preisen, unter anderem dem Großen Schinkel-Preis, dem Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik und dem Nationalpreis ausgezeichnet. Wolf Jobst Siedler starb im November 2013 in seiner Heimatstadt Berlin.
Leseprobe
Wenn man noch immer in demselben Haus lebt, in dem man seine Kindheit verbrachte und Abschied von Eltern und Großeltern nahm, macht es keine Mühe, Empfindungen der Anhänglichkeit an die Stadt seines Lebens zu entwickeln. Fallen die Stationen des eigenen Weges aber mit denen des Gemeinwesens zusammen, so schimmert durch beiläufige Erinnerungen die Epoche hindurch. Berlin, das war der Schulweg durch stille Villenstraßen, in denen das Geräusch des Rasensprengers deutlicher zu hören war als der Marschtritt der Bürgerkriegsarmeen, die ja längst entmachtet waren, die eine Seite wie die andere, SA wie Rotfront. Nahm der Zehnjährige etwas wahr von der Wirklichkeit des Dritten Reiches, wenn er mit den Eltern in den großen Ferien an die See fuhr, in die Bäder auf Usedom oder Wollin? Wohl nur, daß auf den Strandburgen Feldzeichen gleich verschiedene Fähnchen im Seewind knatterten, die pommerschen Farben hier, die preußischen dort, wenn es nicht Phantasieflaggen waren, die kaiserliche Standarte oder der Nivea-Wimpel. Die Doppeldecker jedenfalls, die oben über die Steildünen Spruchbänder zogen, warben für Zigarettensorten, Kurkonzerte und Seebäderdienste nach Rügen oder Zoppot. Politische Parolen sind dem Rückschauenden nicht im Gedächtnis. War es eher die Normalität als die Vulgarität, die wenige Jahre später dem Internatsschüler an Berlin auffiel, wenn er aus der Hermann-Lietz-Schule in Thüringen für die Ferien ins elterliche Haus zurückkehrte? Im dörflichen Ettersburg wie im kleinstädtischen Weimar hatte man beim Bäcker mit dem Namen des 'Führers' grüßen müssen, wenn man einen Mohrenkopf oder einen Amerikaner verlangte; mit dergleichen hätte man sich in der Reichshauptstadt lächerlich gemacht. Aber inzwischen war die Unschuld dahin. Der Pücklersche Park der Schloßschule Ettersburg grenzte ja an den Forst von Buchenwald, und zwischen Haselnußsträuchern und Robiniengebüsch war man beim morgendlichen Waldlauf auf Warnschilder mit dem Totenkopf gestoßen, der auf elektrisch geladene Sperrzäune aufmerksam machte; hin und wieder war es vorgekommen, daß die Schüler nachts durch Alarmsirenen und Hundegebell geweckt wurden. Die Dorfbewohner erzählten am nächsten Morgen, daß ein Häftling - womit man sehr ungenaue Vorstellungen verband - einen Fluchtversuch gemacht oder im geladenen Drahtverhau den Tod gesucht hatte. Da kehrte man dann nach Berlin wie in die Geborgenheit zurück; schon im Internat hatte man die Spielpläne studiert, und zu Hause galt die erste Sorge Grabbes 'Hannibal' in Heinrich Georges Schiller-Theater und Shaws 'Heiliger Johanna' in der Volksbühne. Das war in den Osterferien des Jahres 1940 gewesen, in vier Wochen würde der Frankreich-Feldzug beginnen. Als er vorüber war, hatte die Mutter, deren Vater schon in den ersten Schlachten 1914 als Regimentskommandeur gefallen war, am Tage der Siegesparade in Paris sich am Familientisch verwundert, daß 'dem Mann' alles in ein paar Wochen gelinge, was im ersten Krieg in vier langen Jahren fehlgeschlagen war. Da hatte der Vater nur knapp bemerkt, mit der Parade der Deutschen auf den Champs-Élysées fange es an und mit der Parade der Russen Unter den Linden werde es enden. An der Tafel, der Vierzehnjährige verfolgte jedes Wort, hatte man eingeworfen, man dürfe es mit dem Haß auch nicht übertreiben, diesmal seien die Russen die Verbündeten, nicht die Gegner. Unvergeßlich die väterliche Antwort in das Schweigen hinein: 'Es fragt sich nur, wie lange noch.' Das war Berlin in jenem Sommer 1940. In den benachbarten Häusern fanden im Herbst die Gartenfeste statt, auf denen die Tanzstundenfreunde der Schwester als dekorierte junge Offiziere von den Tabletts die Fruchtgetränke nahmen; schräg gegenüber der neunzehnjährige Fahnenjunker hatte das Glück einer Verwundung gehabt, die es ihm erlaubte, einen Stock mit einer Silberkrücke zu tragen und sich elegant darauf zu stützen. Im Jahr darauf kamen aus Afrika und Rußland die Anzeigen mit den Kreuzen des Abschieds; in den Zeitungen, die man zu Hause las, w Leseprobe