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Ich entschuldige mich

eBook - Das neue politische Bußritual

Erschienen am 28.03.2002, 1. Auflage 2002
11,99 €
(inkl. MwSt.)

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783894807023
Sprache: Deutsch
Umfang: 144 S., 0.20 MB
E-Book
Format: EPUB
DRM: Digitales Wasserzeichen

Beschreibung

Willy Brandts Kniefall 1970 vor dem Mahnmal für die Opfer des Warschauer Ghettos ist unvergessen. Die symbolische Geste der Buße beeindruckte in ihrer Eindringlichkeit die ganze Welt. Sie bleibt ohne Vergleich, markiert aber den Beginn einer jungen Tradition öffentlicher Bitten um Entschuldigung: Bill Clinton gesteht vor der Community of Kisowera School ein, dass Amerika auf unrechtmäßige Weise vom Sklavenhandel früherer Tage profitiert habe. Johannes Rau leistet vor der Knesset in Jerusalem Abbitte für die Verbrechen des Nationalsozialismus. Der Papst nimmt das Heilige Jahr zum Anlass, für die Sünden der Kirche während der Kreuzzüge und der Inquisition um Vergebung zu bitten. Hermann Lübbe beschreibt und deutet die Gepflogenheit führender Politiker, die Geschichte gewordenen Untaten der eigenen Nation vor den Nachkommen der Opfer öffentlich zu bekennen - eine Praxis, die sich weltweit zu etablieren beginnt. Der neue Ritus befördert eine neue "Geschichtsmoral", zwingt zur allseitigen Anerkennung des tatsächlich Geschehenen, was noch zur Zeit des Kalten Krieges undenkbar gewesen wäre. Es zeigt sich, dass jedes Bekenntnis zur Täterschaft der Vorfahren für eine Gemeinschaft ebenso konstitutiv sein kann wie die Erinnerung an die Leiden der Opfer.
Unüberhörbar sind die Worte öffentlicher Bitten um Vergebung dem religiösen Bereich entnommen. Insofern muss die Analyse des neuen Rituals notwendigerweise auch eine Studie der Sprache sein. Wenn der Philosoph Lübbe das gesellschaftspolitische Phänomen öffentlicher Buße untersucht, erweist er sich einmal mehr als Grenzgänger zwischen den Disziplinen - mit scharfer Zunge und scharfem Verstand.

Autorenportrait

Hermann Lübbe, 1926 in Aurich/Ostfriesland geboren, ist Professor für Philosophie und Politische Theorie an der Universität Zürich. Von 1966 bis 1970 war er Staatssekretär, zunächst im Kultusministerium, dann beim Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen. Sein umfangreiches Werk ist u.a. ausgezeichnet mit dem Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik (1990) und dem Preis der Hanns-Martin-Schleyer-Stiftung (1995). Zuletzt erschienen im Siedler Verlag "Politischer Moralismus" (1987) und der vieldiskutierte "Abschied vom Superstaat" (1994).

Leseprobe

Vergebungsbitten und Entschuldigungen - ein neues Element internationaler Politik

Die Entschuldigung für vergangene Untaten ist zu einer neuen Üblichkeit in der Pflege internationaler Beziehungen geworden. Den Deutschen ist das seit langem vertraut. Unvergessen ist Willy Brandts Überbietung des verbalen Entschuldigungsritus durch seinen Kniefall 1970 in Warschau vor dem Mahnmal für die Ghetto-Opfer der »Endlösung« der nationalsozialistischen Rassenreinigungspolitik in Europa. Dieser symbolische Akt ist damals »in der ganzen Welt mit großer und positiver Bewegung zur Kenntnis genommen« worden. Die äußere Form, die Willy Brandt dem öffentlichen Einbekenntnis deutscher Schuld gab, ist freilich von anderen Staatsmännern nicht übernommen worden. Sie erwies sich als eine politisch nicht universalisierbare rituelle Bekundung, und es ist nicht schwer zu erkennen, was diesen Ritus politisch unverfügbar gemacht hat.
Der Grund ist nicht, dass die Bereitschaft anderer repräsentativer deutscher Politiker, sich auf die Massenverbrechen der nationalsozialistischen Diktatur mit Verantwortungseinbekenntnissen zu beziehen, gemeinhin schwächer ausgeprägt gewesen wäre. Vielmehr scheut man die Verwischung von Unterschieden zwischen politischen und religiösen Riten, welche Grenzverläufe zwischen Bürgerschaft und Religionsgemeinschaften markieren, die in Europa und auch in Deutschland strikter beachtet zu werden pflegen als in den USA. Die Demutsgeste des Niederkniens mutet heute kulturell wie ein kirchengebundener Frömmigkeitsritus an. Politische Anpassung an diesen Ritus könnte daher leicht wie ein Akt indiskreten symbolischen Handelns mit staatlich unverfügbaren Mitteln wirken. In Polen, das heißt in einem Land der historisch und näherhin im Kontrast zur Ideologie des machthabenden Kommunismus auffällig ausgeprägt gewesenen katholisch-christlichen nationalen Selbstidentifikation, mochte das angehen. Im laizistischen Frankreich hingegen wäre der fragliche Ritus bei analoger Gelegenheit in Oradour schwerlich verfügbar gewesen.
Willy Brandts Kniefall ist somit in der deutschen Vergangenheitspolitik ein Sonderfall geblieben. Der Regelfall ist der des verbalen Entschuldigungshandelns, wie es uns ja auch aus dem Alltag als primär nicht religiös intendiertes Handeln vertraut ist. Immerhin wird dann und wann die politische Bitte um Entschuldigung, soweit sie sich auf Vergangenheitsgreuel bezieht, die der eigenen Geschichte zugerechnet werden, bis zur Bitte um Vergebung gesteigert.
So geschah es noch durch den deutschen Bundespräsidenten Johannes Rau im Dezember 1999 bei Gelegenheit des Abschlusses der Verhandlungen über die Zahlung einer Entschädigungspauschale von zehn Milliarden Mark zugunsten überlebender Zwangsarbeiter, die während des Zweiten Weltkriegs in Betrieben der Industrie und der Landwirtschaft eingesetzt waren. Das musste auf Beobachter, die für den Unterschied zwischen angemessenen und weniger angemessenen Riten eine Empfindlichkeit haben, prekär wirken. Der Anlass der präsidialen Äußerung war doch zunächst nur die Einigung über das Verfahren zur Aufbringung einer in der fraglichen Angelegenheit für angemessen gehaltenen Ausgleichssumme für angetanes Unrecht an den zu Arbeitseinsätzen verschleppten Personen. Diese Verschleppung war gewiss ein grober Verstoß wider elementare Menschenrechte, ein politisches Verbrechen, und die politische Bitte um Vergebung bezieht sich auf solche Verbrechen. Aber im aktuellen Fall handelte es sich ja nicht unmittelbar um diese, vielmehr um eine endlich erreichte Einigung über einen Bestandteil des Verfahrens der Wiedergutmachung in ihrem materiellen Aspekt. Auf diese Einigung wäre eine Genugtuungsbekundung die angemessene Reaktion gewesen.
In der Rede des deutschen Bundespräsidenten vor der Knesset in Jerusalem am 16. Februar 2000 hingegen hatte die Bitte um Vergebung ihren gehörigen Ort: »Im Angesicht des Volkes Israel verneige ich mich in Demut vor den Ermordeten, die keine Gräber mehr haben, an denen ich sie auch einen banalen Gebrauch kennt. In der Wendung »vergeben und vergessen« begegnet er uns redensartlich. Indessen: Im Kontext der politischen Zivilbuße bleibt die religiöse Herkunft der Bitte um Vergebung unüberhörbar.
In Deutschland beschäftigt man sich mit der moralischen Fälligkeit öffentlichen politischen Schuldeingeständnisses zumeist selbstbezogen. Das ist historisch erklärbar, und soweit die fragliche Literatur als solche den Charakter zivilreligiöser Bußpraxis annimmt, gehört die Selbstbezogenheit zur Sache. Schuld, die man einbekennt und für die man gegebenenfalls um Entschuldigung bittet, kann ja stets nur die eigene sein. Aber das Thema aktueller politischer Entschuldigungspraxis hat seine universalisierbaren Aspekte, und es ist von generellem Interesse, zur Kenntnis zu nehmen, in welchem Umfang inzwischen öffentliche politische Schuldeingeständnisse, oft mit Entschuldigungsbitten verbunden, die internationale Kommunikation mitbestimmen. Etliche einschlägige Fälle dürften inzwischen jedem Medienkonsumenten bekannt sein. Die Sache wird signifikant und erklärungsbedürftig, wenn man aus diesen Fällen ohne jeden Vollständigkeitsanspruch eine kleine Reihe bildet.

Am 23. März 1998 richtete Bill Clinton, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, bei Gelegenheit einer Reise, die ihn durch mehrere afrikanische Länder führte, eine kurze Ansprache an die Community of Kisowera School in Mukono, Uganda. Er berichtete, dass er mit Aufmerksamkeit den Worten des Präsidenten Museveni über die Geschichte Ugandas gelauscht habe. »It is as well not to dwell too much on the past«, gab Clinton zu bedenken. Aber die historischen Fakten machten es doch erforderlich, ausdrücklich festzustellen, »that the United States has not always done the right thing by Africa«. Schon in der Zeit »before we were even a nation, European Americans received the fruits of slave trade«.
Was bleibt da zu sagen? »We were wrong in that.« Wir - das sind also die Amerikaner vor fast einem Vierteljahrtausend, und ihre Sünden übernimmt Clinton für die gegenwärtig von ihm repräsentierte Nation. Über mehr als sieben Generationen hinweg werden hier die Sünden der Väter als eigene einbekannt. »But perhaps the worst sin America ever committed about Africa was the sin of neglect and ignorance«, fügt der Präsident hinzu, und diesem Sündenbekenntnis folgt nach religionskulturell vertrauter Ordnung der Dinge die Buße: »The United States wants to help. Through a new initiative, Education for Development and Democracy, we want to give 120 million dollars over the next two years to innovative programs to improve education«. Und das war erst der Anfang. Gesamthaft habe man von nun an nach der Einsicht zu handeln, »that we share common future on this planet of ours that is getting smaller and smaller and smaller " Thank you and God bless you.«
Die historische Szenerie, die Präsident William Jefferson Clinton für den wichtigsten Teil seines Besuches in Senegal gewählt hatte, steigerte noch die politisch-moralische Intensität der Vergangenheitsvergegenwärtigung: Goree Island. Dort besuchte Clinton das Slave House, den letzten afrikanischen Zwangsaufenthaltsort der Schwarzen vor ihrer Amerikareise, die »anything but a search for freedom« gewesen sei. Später aber habe Amerika doch, in Erfüllung des Freiheitsversprechens von 1776, seinen Kampf für die Überwindung der Sklaverei geführt. Die Schwarzen in seiner Begleitung repräsentierten jetzt »Africa's great gift to America«, nämlich die dreißig Millionen heutigen Afro-Amerikaner. Und wiederum dankte der Präsident und erbat Gottes Segen.
Es versteht sich, dass amerikanische Zeitungen den Bericht über den afrikanischen Auftritt ihres Präsidenten zum Anlass nahmen, die Erinnerung ihrer Leser an die Sklavenfängerei ihrer weißen Vorfahren auch über Fakten aufzufrischen, die auszubreiten billigerweise nicht Sache einer Präsidentenrede sein kann. Diejenigen Schwarzen, so lesen wir zum Beipiel in der International Herald Tribune, die die abschließende Qu

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