Beschreibung
Hinter den einstweiligen, häufig fadenscheinig geführten Diskussionen um den Begriff der Postmoderne, dessen philosophischen Gebrauch JeanFrançois Lyotard geprägt und auch popularisiert hat, wird zumeist vergessen, auf welchen philosophischen Auseinandersetzungen er beruht. Maßgeblich ab seinem Hauptwerk, 'Der Widerstreit' (1983), entwickelt Lyotard wesentlich in Dialog mit Kant eine Theorie des Denkens der Singularität: Wie urteilen ohne vorab festgelegte Kriterien? Was ist überhaupt ein Fall, der eines Urteils bedarf? Im vorliegenden Text setzt Lyotard diese Diskussion mit Kant fort, indem er behauptet, dass am Grund eines jeden Urteils ein unauflöslicher Widerstreit steht, ohne den gar kein Urteil fällig wäre. Ein Urteil ist nur dann vorurteilsfrei, wenn es versteht, gescheit im Widerstreit zu sein und in ihm zu verharren. Mit der vorliegenden Übersetzung soll aber nicht nur eine Lücke in Lyotards sonst gut verfügbaren Werk geschlossen werden. Anlässlich des diesjährigen Doppeljubiläums, dem 300. Geburtstag von Immanuel Kant und dem 100. Geburtstag JeanFrançois Lyotard, liefert der Text auch Anlass, Lyotards Lektüre von Kants kritischer Philosophie zu würdigen. Kritisch zu philosophieren heißt nicht unbedingt, sich siegessicher auf den Richterinnensitz zu hieven, um ein Urteil über die Ansprüche der mittlerweile gestürzten Meta physik zu fällen. Wie Kant gerade in seinem Spätwerk nahelegt, heißt kritisch Philosophieren eher wie ein rastloser und aufgebrachter Nachtwächter auf der Hut zu sein, damit einem das Ereignis, das sich flüchtig in der Morgendämmerung darbietet, nicht entwischt.