Beschreibung
Walter Kempowski Preis für biografische Literatur 2019! Vor 50 Jahren, im August 1969, starb Adorno - und Jochen Schimmang übt sich in Abwesenheitspege. In melancholischen bis heiteren, zum Teil autobiograsch gefärbten Geschichten erzählt er von Formen und Figuren des Verschwindens. Von Menschen, Gebäuden, ganzen Vierteln; von Techniken, Gesten, Sprechweisen. Ein Jubilar versteckt sich mit seiner Frau auf dem Dachboden vor seinen Freunden, die zum 70. Geburtstag aus allen Himmelsrichtungen auf ihn einstürmen, obwohl er viel lieber nur mit zweien von ihnen essen gegangen wäre. Rothermund macht sich auf die Suche nach dem verschwundenen Maler Gutermuth. Ein Spaziergang durch Frankfurt zeigt, wer, außer Adorno, noch alles nicht mehr dort wohnt. Aber Spaziergänge sind ohnehin sterbende Institutionen, ein Sich-Verirren in der Welt kann zum Verwirren der Welt werden. Milieus, die sich nicht mehr erreichen, Nomaden in Monaden. Nur Gott ist nicht verschwunden, er taucht pünktlich um halb sieben in der Kirche auf - im Fischgrätmantel. Jochen Schimmangs feinsinnige Erzählungen gehen auf Spurensuche nach Lücken und Verlusten und zeigen zugleich, dass »Identität« eine höchst fragile Konstruktion ist.
Autorenportrait
Jochen Schimmang, geboren 1948, studierte Politische Wissenschaften und Philosophie an der FU Berlin und lehrte an Universitäten und in der Erwachsenenbildung. Er ist freier Schriftsteller und Übersetzer und lebt in Oldenburg. 2010 erhielt er für seinen Roman »Das Beste, was wir hatten« den Rheingau Literatur Preis und 2012 den Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar für »Neue Mitte« sowie die Künstlerstipendien der Villa Concordia in Bamberg und des Künstlerhauses Edenkoben. 2017 erschien sein Roman »Altes Zollhaus, Staatsgrenze West« und 2019 der Erzählungenband »Adorno wohnt hier nicht mehr«. 2019 wurde Jochen Schimmang mit dem Walter Kempowski Preis für biografische Literatur des Landes Niedersachsen ausgezeichnet, 2021 erhält er den Italo-Svevo-Preis.
Leseprobe
Zurück im Niemandsland, lade ich manchmal Freunde und Nachbarn ein, und bei einem Glas Wein füttern wir die Maschine mit Aufgaben und erfreuen uns an ihrer Arbeit. Es herrscht ein gewisser Wettbewerb, wer die Resultate am weitgehendsten und präzisesten entziffern kann. Von den Freunden und Kollegen ist keiner wirklich geschickt darin, ich überügle sie immer noch mit Leichtigkeit. Allein Herr Borgward, ein Informatiker im Ruhestand, der vor zwanzig Jahren aus Hamburg hierhergezogen ist und sich eine ehemalige Grenzbaracke mit angeschlossenem Wachturm zu einem komfortablen Heim hat umbauen lassen, ist sehr versiert, so sehr, dass er demnächst die Resultate ganz entziffern und behalten können wird. Doch er ist sehr alt und wird bald sterben, und im Übrigen hat er mir versichert, dass er an ihren Lösungen keinerlei Interesse hat. Wir trinken unseren Wein und schauen der Maschine bei der Arbeit zu, und wenn sie leise zu singen beginnt, summen wir ebenso leise mit. Schließlich, unter dem fernen kalten Schein einer Peitschenlampe auf der ehemals anderen Seite der Grenze, schlafen wir, nach aller Mühe, allem Spiel.