Beschreibung
Ausgezeichnet mit dem "aspekte"-Literaturpreis für das beste Prosadebüt 2001 Eine verminte Grenze, die Familien trennt, Liebende auseinanderreißt, Menschen zerstört. Aus dem kurdischen Niemandsland zwischen Iran, Irak und Türkei, in dem die Geschichte spielt, kam auch der Vater von Sherko Fatah, der literarischen Entdeckung des Jahres 2001. In seinem von der Kritik hymnisch gelobten Debüt erzählt er die Geschichte eines Grenzgängers. Der Mann ohne Namen arbeitet als Schmuggler im verminten Gelände. Er hat einen Pakt mit den Minen geschlossen: Solange er sie nicht verrät, verraten sie auch ihn nicht. Doch als sein Sohn verschwindet, ist auf einmal alles anders. Aus Liebe macht er sich auf die Suche nach ihm - ein gefährliches Unterfangen.
Autorenportrait
Sherko Fatah wurde 1964 in Ost-Berlin als Sohn eines irakischen Kurden und einer Deutschen geboren. Er wuchs in der DDR auf und siedelte 1975 mit seiner Familie über Wien nach West-Berlin über. Er studierte Philosophie und Kunstgeschichte. Für sein erzählerisches Werk hat er zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt den Großen Kunstpreis Berlin der Akademie der Künste und den Adelbert-von-Chamisso-Preis 2015, außerdem den Aspekte-Literaturpreis für den Roman 'Im Grenzland'. Er wurde mehrfach für den Preis der Leipziger Buchmesse (2008 mit 'Das dunkle Schiff', 2012 mit 'Ein weißes Land') nominiert und mit 'Das dunkle Schiff' auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2008 gewählt.
Leseprobe
Als der zugereiste Gast von dem Trauerfall hörte, war der Schmuggler schon seit Tagen unterwegs. Ohne vom nunmehr offiziell bestätigten Tod seines Sohnes zu wissen, hatte sich der Mann auf den Weg gemacht. Vorher jedoch verließ er den Rest seiner Familie, seine Frau und die beiden halbwüchsigen Kinder. Als ahnte er etwas vom Bevorstehenden, hatte der Schmuggler begonnen, die Brücken hinter sich abzubrechen. Die letzten Tage vor seinem Aufbruch übernachtete er im Hause seiner älteren Schwester, einer stillen, kleinen, aber in allem, was sie tat, beharrlichen Frau, die mehrfach versuchte herauszufinden, was mit ihm geschehen war. Aber der Schmuggler schwieg, und wahrscheinlich tröstete sie sich damit, daß es sich nur um eine vorübergehende Krise handele. Mit der Nachricht vom lange zurückliegenden Tod des Jungen hatte sich nun alles in nicht abzuschätzender Weise verschlimmert. Der Gast sah seine ihm bis dahin nur aus Erzählungen bekannte Tante, bei der er für die kurze Zeit seines Aufenthaltes wohnte, wie einen Geist durch das Haus huschen. Wie sie fragte er sich, was der Schmuggler tun würde, wenn er zurückkäme und das erführe, was er seit Jahren befürchtet hatte. Er ging zum Haus des Schmugglers, um dessen Frau zu kondolieren. Es war ein offenes Haus, in das er kam; die Tür war angelehnt. Jeder konnte hineingehen, nicht nur um sein Beileid auszusprechen, sondern um eine Zeitlang mitzutrauern. Er schob die Tür auf und bahnte sich einen Weg durch Haufen von Schuhen wie im Vorraum einer Moschee. Um sie leichter wiederzufinden, zog er seine Schuhe erst aus, als er schon zwischen den männlichen Trauergästen stand, denen das Untergeschoß vorbehalten war. Sie lehnten an den Wänden, hockten am Boden, und ihr gedämpftes Sprechen erfüllte die Zimmer. Er arbeitete sich gleich zur Treppe durch, ohne einen Blick in den Hauptraum zu werfen, da er von den Gästen hier ohnehin niemanden kannte. Er stieg hinauf und wartete immer wieder, bis einzelne Männer sich von den Stufen erhoben, um den Weg freizugeben. Oben war es noch dunkler als im übrigen Teil der Wohnung. Die Vorhänge in den kleinen Zimmern waren zugezogen. Dort hatten sich die Frauen versammelt. Er schaute in jedes und strengte seine Augen an. Nur Blicke begegneten ihm, niemand sprach ihn an. Der Singsang des Koranvortrags leitete ihn zum richtigen Raum. Den Kopf seitlich in die Hand gestützt, saß sie auf dem Fußboden. Ihr Rücken lehnte an der nackten Wand. Die anderen Frauen waren einfach da, sie kauerten um sie und verbrachten Zeit mit ihr. Eine Zeit, die nicht vergehen wollte. So herrschte eine Dauer, die ihre akustische Gestalt im gleichförmigen Vortrag aus dem Kassettenrecorder fand. Er setzte seine Schritte vorsichtig zwischen die Frauen und hockte sich vor ihr nieder. Sofort umarmte sie ihn, riß ihn an sich, als wäre auch er im Begriff zu verschwinden. Er hatte vorher erfragt, was er tun solle, und so gab er ihr jetzt den Kuß auf die Wange, ohne etwas zu sagen. Sie ließ ihn wieder los und nickte leicht, blickte ihn kurz an mit einer Traurigkeit, die ihn gerade darum so ergriff, weil sie gänzlich unpersönlich war. Sie bestand nur aus Nähe zu jenem Dunkel der märchenhaft blauen Vorhänge, das jede Farbe im Raum, selbst die der Haut in sich aufnahm. Er löste sich von ihr und stand auf. Sie blickte zu ihm hinauf, aber auch er war nur Teil des größeren Dunkels, auch er konnte gehen und kommen und änderte nichts damit. Das einzige, was er tun konnte, war einen Abschnitt der endlosen Zeit im Haus verbringen. Er ging aus dem Zimmer, die rauhe Rezitationsstimme folgte ihm zur Treppe und bis hinunter. Da stand er nun und fühlte diese Zeit so deutlich, weil sie leer war, unerfüllt von Gesprächen oder Handlungen. Sie lastete auf ihm, während immer neue Trauergäste hereinschlichen. Sie kamen ohne nervöses Umsichblicken und ohne Grußbereitschaft. Hier gab es nicht einmal Öffentlichkeit; in diesen dunklen Räumen war man nicht Gast, sondern eigentlich, in einem trostlosen und erschrecke Leseprobe