Beschreibung
Ein liebender Kommissar, ein tödliches Missverständnis und die verflixte Beschaffenheit der Welt. Sebastian kann mit seinem Leben mehr als zufrieden sein. Vielleicht hat er ein bisschen zu viel von seinem physikalischen Talent zugunsten seiner Familie aufgegeben. Sein alter Freund Oskar, auch er ein Genie der theoretischen Physik, erinnert ihn zuweilen daran. Als Sebastian seinen Sohn in ein Ferienlager fahren will, findet er sich unversehens in einem Alptraum wieder. Der Sohn wird entführt, und er bekommt ihn erst wieder, wenn er einen Mord begeht
Autorenportrait
Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, Jurastudium in Passau und Leipzig, Promotion im Europa- und Völkerrecht. Längere Aufenthalte in New York und Krakau. Schon ihr Debütroman 'Adler und Engel' (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Thomas-Mann-Preis (2013) und dem Heinrich-Böll-Preis (2019). Im Jahr 2018 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz und wurde zur Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gewählt. Ihr Roman 'Über Menschen' war das meistverkaufte belletristische Hardcover des Jahres 2021.
Leseprobe
Wir haben nicht alles gehört, dafür das meiste gesehen, denn immer war einer von uns dabei. Ein Kommissar, der tödliches Kopfweh hat, eine physikalische Theorie liebt und nicht an den Zufall glaubt, löst seinen letzten Fall. Ein Kind wird entführt und weiß nichts davon. Ein Arzt tut, was er nicht soll. Ein Mann stirbt, zwei Physiker streiten, ein Polizeiobermeister ist verliebt. Am Ende scheint alles anders, als der Kommissar gedacht hat - und doch genau so. Die Ideen des Menschen sind die Partitur, sein Leben ist eine schräge Musik. So ist es, denken wir, in etwa gewesen. Erstes Kapitel in sieben Teilen. Sebastian schneidet Kurven. Maike kocht. Oskar kommt zu Besuch. Die Physik gehört den Liebenden. Im Anflug aus Südwesten, aus einer Höhe von fünfhundert Metern betrachtet, gleicht Freiburg einem ausgefransten, hellen Fleck in den Falten des Schwarzwalds. Es liegt da, als wäre es eines Tages vom Himmel gefallen und den angrenzenden Bergen bis vor die Füße gespritzt. Belchen, Schauinsland und Feldberg sitzen im Kreis und überschauen eine Stadt, die nach Zeitrechnung der Berge vor etwa sechs Minuten entstanden ist und trotzdem so tut, als hätte sie schon immer da unten am Fluss mit dem komischen Namen gelegen. "Dreisam". Wie Einsamkeit zu dritt. Ein gleichgültiges Achselzucken des Schauinslands würde Hunderte von Radsportlern, Seilbahnfahrern und Schmetterlingssuchern das Leben kosten; ein gelangweiltes SichAbwenden des Feldbergs wäre das Ende des ganzen Landkreises. Weil die Berge mit düsteren Mienen auf das Treiben in Freiburgs Straßen blicken, bemüht man sich dort um Unterhaltungswert. Täglich senden Wald und Berge eine große Menge Vögel in die Stadt, mit dem Auftrag, über die neuesten Ereignisse zu berichten. Wo die Gassen schmal werden und die Schatten dichter zusammenrücken, sind Ockergelb und Schmutzigrosa die Farben des fortlebenden Mittelalters. Unzählige Gauben sitzen auf den steilen Dächern und böten ideale Landeplätze, wenn die Hausbesitzer sie nicht mit aufwärts zeigenden Nägeln bestückt hätten. Eine vorbeiziehende Wolke fegt die Helligkeit von den Fassaden. Auf dem Leopoldring kauft ein Zopfmädchen Eis. Sein Scheitel ist gerade wie eine Durchgangsstraße. Nur wenige Flügelschläge entfernt liegt die Sophie-de-la-Roche-Straße, die so grün ist, dass sie sich eine eigene Klimazone leisten kann. Immer geht ein leichter Wind, den die Kronen der Kastanien zum Rascheln brauchen. Die Bäume haben den Stadtarchitekten, der sie pflanzte, um ein Jahrhundert überlebt und sind größer geworden, als er es geplant hatte. Während sie oben langfingrig die Balkone betasten, wölben ihre Wurzeln unten das Pflaster und graben sich durch die Begrenzungsmauern des Gewerbebachs, der direkt an den Fundamenten fließt. Bonnie und Clyde, die eine mit braunem, der andere mit grünem Kopf, paddeln schnatternd gegen die Strömung, wenden an der immergleichen Stelle und lassen sich flussabwärts treiben. Auf ihrem Fließband überholen sie jeden Passanten, äugen zum Gehweg hinauf und betteln um Brot. Die SophiedelaRocheStraße strahlt ein solches Wohlbehagen aus, dass ein unbeteiligter Beobachter auf die Idee kommen könnte, das Einverstandensein mit der Welt sei hier Bedingung für die Anmeldung eines Hauptwohnsitzes. Weil der Gewerbebach die Mauern feucht macht, stehen die Türen der Gebäude sperrangelweit offen, dass es aussieht, als ragten die Fußgängerstege wie Zungen aus aufgesperrten Mäulern. Ohne Zweifel ist Nummer sieben das schönste Haus in der Reihe, weiß gestrichen und mit bescheidenem Stuck. Kaskadengleich fließen die Blüten eines Blauregens an der Fassade herunter. Eine altmodische Laterne döst ihrem nächtlichen Einsatz entgegen; in ihrer Efeustola lärmen die Spatzen. In einer guten Stunde wird ein Taxi um die Ecke biegen und neben ihr halten. Der Fahrgast auf der Rückbank wird seine Sonnenbrille anheben, um Kleingeld in die Hand des Fahrers zu zählen. Er wird aussteigen, den Kopf in den Nacken legen und zu den Fenstern im zweit Leseprobe