Beschreibung
Ein neuer Fall für Kommissar Árni aus Reykjavík Im abgelegenen östlichen Hochland befindet sich das umstrittenste Bauprojekt Islands: ein gigantischer Staudamm soll hier entstehen. Wo einst unberührte Natur war, schuften nun Billigarbeiter aus aller Herren Länder unter menschenunwürdigen Bedingungen. Da stürzt eines Morgens ein Felsüberhang in die Tiefe und begräbt sieben Männer unter sich. Doch war es wirklich ein Unfall oder steckt ein grausamer terroristischer Akt dahinter? Als Kommissar Árni und seine Kollegen eintreffen, empfängt sie ein portugiesischer Arbeiter mit den Worten: "Willkommen in Alcatraz ." Nominiert für den skandinavischen Krimipreis.
Autorenportrait
Ævar Örn Jósepsson, Jahrgang 1963, studierte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg Philosophie und Englische Literatur. Seit 1994 arbeitet er als freiberuflicher Übersetzer und ist als Journalist für zahlreiche isländische Zeitungen und Magazine tätig. Jósepsson lebt in Reykjavík.
Leseprobe
Jorge fror. Er fror an Händen, Füßen, am Kopf und im Gesicht. Er fror an Schultern, Waden, Schenkeln, an der Brust und am Arsch. Nicht an den Zehen und Fingern, da hatte er nämlich schon seit langem kein Gefühl mehr, aber an sämtlichen anderen Körperteilen, sogar am Bauch und am Sack war ihm kalt. So etwas hatte er noch nie erlebt, bevor er vor zwei Monaten seine erste Schicht in der Hölle machte. Denn das hier war die Hölle, daran konnte nicht der geringste Zweifel bestehen. Von Kindesbeinen an war ihm allerdings die Vorstellung eingetrichtert worden, dass es in der Hölle heiß sei. Der Pfarrer, der Lehrer, seine Eltern, Geschwister und Freunde kannten unzählige Geschichten darüber, was diejenigen, die im Diesseits nicht auf dem schmalen und dornigen Pfad der Tugend und Gottesfurcht wandelten, dort unten erwartete. Wie ein roter Faden durchzogen die unsäglichen Qualen des Verdammten in den Verderben bringenden Feuern diese Geschichten, die ansonsten ein beredtes Zeugnis für die lebhafte Phantasie gewissengeplagter Generationen ablegten. Daheim in Terena war es in der sengenden Mittagssonne nicht schwierig gewesen, an solche Geschichten zu glauben. Er und sein Freund Joaquim hatten sogar einmal ein Experiment gemacht und sich um zehn Uhr morgens nur in der Badehose auf eine Felsklippe an der Südseite der Burg gelegt und dort den ganzen langen, wolkenlosen und brennend heißen Tag verbracht, ohne einen Tropfen Wasser dabei zu haben. Als er endlich nach Hause gekrochen kam, hatte seine Mutter ihm zunächst eine Tracht Prügel angedroht, aber als sie die Brandwunden am ganzen Körper sah, hatte sie es nicht übers Herz gebracht, ihr Wort in die Tat umzusetzen. "Wir wollten herausfinden, wie es in der Hölle ist", hatte er gerade noch hervorstöhnen können, bevor er das Bewusstsein verlor. Damals war er sieben Jahre alt gewesen. Und jetzt, dreißig Jahre später, stand er hier und wusste es besser. In der Hölle war es kalt. Höllisch kalt. Und finster, ständig finster, oder bestenfalls manchmal grau. Jorge blickte zum schwer verhangenen Morgenhimmel hoch. Es war schon nach acht, aber nirgends auch nur ein Schimmer von Tageslicht. Irgendjemand hatte versucht, ihm weiszumachen, dass die Sonne hier im Sommer Tag und Nacht vom Himmel herunterschiene, aber das konnte er nicht so recht glauben. Er bezweifelte sogar, ob hier überhaupt jemals Sommer würde. Seit sie hier oben ihre Vertragszeit abbrummten, hatte er nur zweimal die Sonne gesehen, sie schien es gerade mal zu schaffen, über den Horizont zu lugen, doch nur, um gleich anschließend wieder zu versinken. Als wenn sie krank wäre, dachte Jorge. Vielleicht missfiel ihr aber auch einfach nur das, was sie hier oben sah, und sie verspürte nicht die geringste Lust, es anderen zu zeigen. Er konnte ihr das nicht verdenken. Ein Lächeln huschte über die zusammengekniffenen Lippen unter dem eisstarrenden Schnurrbart, das sich aber auf der Stelle in eine Schmerzgrimasse verwandelte, als die vom Frost ausgetrocknete Haut an drei Stellen riss. Es gab ja auch keinen Grund, sich zu amüsieren. Nicht mehr. In den ersten Tagen hatten er und Joaquim darüber gewitzelt, hatten am Mittagstisch über dieses seltsame, harte und vegetationslose Land gelacht, wo nie die Sonne schien, und über die Dummköpfe, die sich damit abfanden, hier zu leben. Aber jetzt war es nicht mehr komisch, genauso wenig wie der eisige Wind, der manchmal aus allen Richtungen zugleich zu blasen schien und sich weder durch Schutzkleidung noch Hauswände abhalten ließ, sondern überall eindrang, Schnee oder Sand mit sich tragend, und manchmal sogar beides. Mittlerweile schwiegen Joaquim und er beim Essen meistens. Brummten vielleicht mal etwas Unverständliches vor sich hin, aber schwiegen ansonsten. Schlenderten wortlos in den gegenüberliegenden Aufenthaltsraum, um zu rauchen. Spielten schweigend Karten, schlürften den viel zu dünnen Kaffee und machten sich nicht mehr die Mühe, über ihn zu fluchen. Stattdessen stöhnten sie und dachten an zu Haus Leseprobe