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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783446202900
Sprache: Deutsch
Umfang: 152 S.
Format (T/L/B): 1.5 x 20.5 x 13 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Sankt Petersburg, die Stadt am Meer, wird in diesem Buch so lebendig und anschaulich gefeiert wie selten zuvor. Eine Liebeserklärung des Nobelpreisträgers Brodsky und eine Reise in die Erinnerung und in die Kindheit - geschrieben, um im Exil nicht zu verstummen. Mit Fotografien von Barbara Klemm, die Architektur, Menschen und Leben dieser großartigen Stadt dokumentieren.

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Autorenportrait

Joseph Brodsky, 1940 in Leningrad geboren, wurde nach einem Prozess wegen "Parasitentums" und fünfjähriger Zwangsarbeit 1972 aus der Sowjetunion ausgebürgert. Mit Hilfe des Dichters W. H. Auden emigirierte er in die USA, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1996 lebte. 1987 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. Im Hanser Verlag erschien 2006 Brief in die Oase, eine umfangreiche und repräsentative Auswahl aus Brodskys dichterischem Werk.

Leseprobe

Wir lebten zu dritt in diesen unseren eineinhalb Zimmern: mein Vater, meine Mutter und ich. Eine Familie, in der damaligen Zeit eine typisch russische Familie. Es war die Zeit nach dem Krieg, und wenige Leute konnten sich mehr als ein Kind leisten. Einige konnten sich nicht mal ihren Vater leisten, als Lebenden oder Anwesenden. Gewaltige Schrecken und Krieg suchten ihre Opfer in den großen Städten, in meiner Vaterstadt besonders. Also hätten wir uns glücklich schätzen müssen, zumal wir Juden waren. Wir hatten alle drei den Krieg überlebt (und ich sage »alle drei«, weil ich auch vorher geboren wurde, 1940); meine Eltern hingegen hatten die dreißiger Jahre auch überlebt. Ich nehme an, sie schätzten sich glücklich; auch wenn sie nie viel darüber sprachen. Im großen und ganzen waren sie sich ihrer selbst nicht besonders bewußt, erst als sie älter wurden und die Gebrechen anfingen sie heimzusuchen. Aber auch dann sprachen sie nicht von sich und dem Tod, in einer Art, die den Zuhörer erschrecken läßt oder zu Mitleid anspornt. Sie brummelten einfach vor sich hin oder klagten, an niemanden gerichtet, über Schmerzen, oder sie unterhielten sich ausgiebig über das eine oder andere Medikament. Das Äußerste, was meine Mutter überhaupt zu diesem Thema hervorbrachte, war, daß sie auf ein besonders edles Porzellan deutete und sagte: »Das wird einmal dir gehören, wenn du heiratest oder wenn.« Und jedesmal brach sie dann ab. Und einmal, erinnere ich mich, sprach sie am Telefon mit irgendeiner ihrer entfernten Freundinnen, von der es hieß, sie sei krank: Ich erinnere mich an meine Mutter, wie sie aus der Telefonzelle auf die Straße tritt, wo ich auf sie wartete, da war hinter ihrer Schildpattbrille ein irgendwie unvertrauter Blick in ihren so vertrauten Augen. Ich neigte mich zu ihr (ich war schon ziemlich viel größer) und fragte, was die Frau gesagt habe, und meine Mutter antwortete, ziellos geradeaus starrend: »Sie weiß, daß sie im Sterben liegt und hat ins Telefon geweint.« Sie nahmen alles als selbstverständlich hin: das System, ihre Machtlosigkeit, ihre Armut, ihren widerborstigen Sohn. Sie versuchten halt aus allem das Beste zu machen: immer Essen auf den Tisch zu bringen, ganz gleich, was für Essen das war, es mußte in Leckerbissen verwandelt werden, und dann mit dem Geld zurechtzukommen - und obwohl wir immer von Zahltag zu Zahltag lebten, mußten ein paar Rubel für die Lieblingsfilme des Jungen, für einen Museumsbesuch, für Bücher, für Schleckereien beiseite gelegt werden. Geschirr, Besteck, Kleider, Wäsche, alles immer sauber, poliert, gebügelt, geflickt, gestärkt. Die Tischdecke war immer fleckenlos und steif, der Lampenschirm darüber abgestaubt, das Parkett gebohnert und gefegt. Erstaunlich dabei ist, sie waren nie gelangweilt. Müde, ja, aber nicht gelangweilt. Den größten Teil der freien Zeit zu Hause waren sie auf den Beinen: sie kochten, wuschen, pendelten zwischen der Gemeinschaftsküche unserer Wohnung und unseren eineinhalb Zimmern hin und her, fummelten an diesem oder jenem Haushaltsgegenstand herum. Wenn sie sich setzten, so war das selbstverständlich zum Essen. Aber hauptsächlich erinnere ich mich an meine Mutter auf einem Stuhl, über ihre Singer? Nähmaschine mit Fußpedal gebeugt, um unsere Kleider in Ordnung zu bringen, alte Hemdkragen zu wenden, alte Mäntel zu flicken oder zu ändern. Was meinen Vater betrifft, so saß er nur auf einem Stuhl, wenn er die Zeitung las, oder aber an seinem Schreibtisch. Manchmal sahen sie abends einen Film oder ein Konzert an unserem 1952?Fernseher. Dann saßen sie gewöhnlich Leseprobe