Beschreibung
Die umfangreichste Auswahl von Gedichten des russischen Nobelpreisträgers in deutscher Sprache. Joseph Brodsky war ein Dichter vielfältiger Masken und Metamorphosen, ein russischer Odysseus und vom Tod besessener Ironiker, ein Liebeselegiker, Exilant und Erforscher der Zeit, ein eingefleischter Skeptiker und energischer Verteidiger von Wert und Würde der Poesie. Mit diesem vorbildlich übersetzten Durchgang durch sein Werk erschließt sich erstmals der phänomenale Facettenreichtum des unvergessenen Lyrikers.
Autorenportrait
Joseph Brodsky, 1940 in Leningrad geboren, wurde nach einem Prozess wegen "Parasitentums" und fünfjähriger Zwangsarbeit 1972 aus der Sowjetunion ausgebürgert. Mit Hilfe des Dichters W. H. Auden emigirierte er in die USA, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1996 lebte. 1987 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. Im Hanser Verlag erschien 2006 Brief in die Oase, eine umfangreiche und repräsentative Auswahl aus Brodskys dichterischem Werk.
Leseprobe
Lagune I Drei alte Frauchen mit Strickzeug in tiefen Sesseln debattieren in der Halle über die Leiden Christi; die Pension »Accademia« segelt verpaart mit dem Weltall Richtung Weihnacht zum Gedröhne des Fernsehers; unterm Arm das Hauptbuch dreht der Mann vom Empfang das Steuerrad. II Über die Gangway steigt an Bord, auf sein Zimmer tastend der Gast, eine Flasche Grappa in seiner Tasche, ein völliger Niemand, ein Mensch im Regenmantel, der Erinnerung, Vaterland und den Sohn zurückließ; seinen Rücken vermißt (aus Espenholz) ein dicker Knüppel, wenn überhaupt wer! den vom Leben Verbannten. III Venedigs Kirchen bimmeln wie hellklingende Teeservice aus dem Kästchen hervor als zufällige Lebenszeichen. Der bronzene Krake des Lüsters leckt im von Entengrün überzogenen Spiegel die Werkbank, das von Tränen, Liebkosungen und schmutzigen Träumen feuchte Laken. IV Nachts läßt die Adria per Ostwind den Canal Grande bis obenhin vollaufen wie eine Badewanne und wiegt die Gondeln; kein Ochse bläst die Nüstern auf am Kopfende, Fische bloß ragen in die Nacht und ein Seestern mischelt am Rolladen mit seinen Strahlen solange du schläfst. V So also werden wir leben, begießen mit dem toten Wasser und Glas der Karaffe das nasse Lodern der GrappaGlut, zerteilen die Brachse statt der Weihnachtsgans, daß uns sättigend tröste Dein aus dem Wasser stammender Vorfahr, Erlöser, in dieser Nacht, der winterkalt-nassen. VI Eine Weihnacht ohne Schnee, Tanne und Engel an diesem Meer, dem von der Karte beengten; ihre Weichtier-Schale zur Tiefe sinken läßt, ihr Gesicht verbergend, doch gern ihren Rücken zeigend: die Zeit, sie steigt aus den Wellen, verrückt den Zeiger am Turm - den einen jetzt. VII Versinkende Stadt wo die feste Vernunft sich auflöst in feuchte Augen und besten Sumpf, wo der südliche Bruder der nördlichen Sphinx, der geflügelte Löwe, beim Lesen und Denken das Buch nicht zuklappt und schreit: Los, kämpfe! sondern glücklich im Geplätscher der Spiegel versinkt. VIII Eine Gondel schlägt gegen die morschen Pfähle. Der Laut verneint sich selber, die Worte fehlen und das Gehör. Vor jener finsteren Macht wo die Arme sich emporrecken wie Nadelwälder vor einem kleinen, verschlagenen Dämon daß der Speichel im Mund zu Eis erstarrt. IX Kreuzen wir also mit der linken, samt eingeparkten Krallen in der Armbeuge, die rechte Pranke; so ergibt sich eine Geste ähnlich fast wie Hammer und Sichel. Wie bei Gogol ein Teufel der Hexe - zeigen wir sie tapfer der Epoche die jedem Albtraum gleicht der zu ihr paßt. Leseprobe