Beschreibung
Victor Turner hat in diesem erstmals 1982 erschienenen Buch Maßstäbe für die Anwendung ethnologischer, an 'fremden Kulturen' gewonnener Erkenntnisse gesetzt. Er hat die Rituale, Symbole und Interaktionsformen der Industriegesellschaft dem ethnologischen Blick ausgesetzt und dabei ihre Theatralität und ihre Spielstrukturen erforscht: die Inszenierungen und Rollenspiele des Alltags. Besonders interessierte Turner sich dabei für gesellschaftliche Krisensituationen beziehungsweise 'soziale Dramen' und die Funktionen von Ritual und Spiel bei ihrer Bewältigung. Sein Forschungsansatz hat nachhaltige Wirkungen entfaltet, unter anderem in den Arbeiten von Erving Goffman. In ihrer für diese Ausgabe neu verfassten Einleitung verbindet Erika Fischer-Lichte die Perspektive von Turner mit aktuellen Theorien des Performativen und der Aufführung.
Autorenportrait
Victor Turner (1920 - 1983) war Professor für Ethnologie an verschiedenen amerikanischen Universitäten. Sein Hauptwerk, 'Das Ritual' (1969), ist ebenfalls in der Campus Bibliothek erschienen.
Leseprobe
Die besondere Bedeutung, die Turners Essayband Vom Ritual zum Theater heute in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft, der Mediävistik und anderen Kulturwissenschaften zukommt und eine Neuauflage mehr als wünschenswert erscheinen lässt, hat sich erst in den ausgehenden 1990er Jahren - der Zeit der so genannten performativen Wende in den deutschen Kunst- und Kulturwissenschaften - sowie in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts herauskristallisiert. Dafür lassen sich insbesondere zwei Gründe anführen, die eng mit der performativen Wende zusammenhängen. In ihrem Gefolge wurde zum einen der Begriff der Liminalität aus der Ethnologie bzw. Kulturanthropologie in andere Kulturwissenschaften sowie in einige Kunstwissenschaften transferiert. Zum anderen flammte die Debatte über das Verhältnis von Ritual und Theater in den Altertumswissenschaften, der Mediävistik, der Theaterwissenschaft und der Ethnologie erneut auf. Auf beiden Feldern erschien und erscheint eine Auseinandersetzung mit Victor Turner und insbesondere seiner Essaysammlung Vom Ritual zum Theater unumgänglich. Turner hatte in The Ritual Process: Structure and Anti-Structure unter Rekurs auf Arnold van Genneps Les rites de passage (1909), die 1960 in einer englischen Übersetzung erschienen waren - und erst 1986 in einer deutschen Übersetzung vorlagen -, den Begriff des Liminalen bzw. der Liminalität eingeführt. Van Gennep hatte an einer Fülle ethnologischen Materials dargelegt, dass Rituale mit einer im höchsten Maße symbolisch aufgeladenen Grenz- und Übergangserfahrung verknüpft sind. Übergangsriten gliedern sich in drei Phasen: 1. die Trennungsphase, in der/die zu Transformierende(n) aus ihrem Alltagsleben herausgelöst und ihrem sozialen Milieu entfremdet werden; 2. die Schwellen- oder Umwandlungsphase; in ihr wird/werden der/die zu Transformierende(n) in einen Zustand 'zwischen' alle möglichen Bereiche versetzt, die ihnen völlig neue, zum Teil verstörende Erfahrungen ermöglichen; 3. die Angliederungsphase, in der die nun Transformierten wieder in die Gesellschaft aufgenommen und in ihrem neuen Status, ihrer veränderten Identität akzeptiert werden. Diese Struktur lässt sich nach van Gennep in den verschiedensten Kulturen beobachten. Sie wird erst in ihren Inhalten kulturspezifisch ausdifferenziert. In The Ritual Process hat Victor Turner den Zustand, der in der Schwellenphase hergestellt wird, als Zustand der Liminalität (von lat. limen - die Schwelle) bezeichnet und genauer als Zustand einer labilen Zwischenexistenz 'betwixt and between the positions assigned and arrayed by law, custom, convention and ceremonial' bestimmt. Er führt aus, dass und wie die Schwellenphase kulturelle Spielräume für Experimente und Innovationen eröffnet, insofern 'in liminality, new ways of acting, new combinations of symbols, are tried out, to be discarded or accepted'. Die Veränderungen, zu denen die Schwellenphase führt, betreffen nach Turner in der Regel den gesellschaftlichen Status derer, die sich dem Ritual unterziehen, sowie die gesamte Gesellschaft. Auf die Individuen bezogen bedeutet dies, dass zum Beispiel Knaben zu Kriegern werden, eine unverheiratete Frau und ein unverheirateter Mann zu einem Ehepaar oder ein Kranker zu einem Gesunden. Die gesamte Gesellschaft betreffend bestimmt Turner Rituale als Mittel zur Erneuerung und Etablierung von Gruppen als Gemeinschaften. Dabei sieht er vor allem zwei Mechanismen am Werk: erstens die in den Ritualen erzeugten Momente von communitas, die er als gesteigertes Gemeinschaftsgefühl beschreibt, das die Grenzen aufhebt, welche die einzelnen Individuen voneinander trennen; und zweitens eine spezifische Verwendung von Symbolen, die sie als verdichtete und mehrdeutige Bedeutungsträger erscheinen lässt und es allen Beteiligten ermöglicht, verschiedene Interpretationsrahmen zu setzen. Turner entwickelte seinen Begriff des Liminalen unter Bezug auf afrikanische Stammesgesellschaften. In der Auseinandersetzung mit von ihm so genannten Freizeitgattungen in komplexen Industriegesellschaften - wie 'Theater, Tanz, Gesang, Kunst, Schriftstellerei, Komposition' oder 'der Massen-, Pop-, Volks-, Hoch-, Gegen-, Untergrund- usw. Kultur' -, vor allem aber in der Zusammenarbeit mit Richard Schechner sah er sich mit Prozessen konfrontiert, denen, zumindest partiell, Qualitäten eignen, die für seine Bestimmung des Liminalen konstitutiv sind. Gleichwohl schienen ihm die Unterschiede zu groß zu sein, um auch hier den Begriff anzuwenden. Denn während die Teilnahme an Ritualen in Stammeskulturen verpflichtend sei, ist die Teilnahme an Veranstaltungen der Freizeitgattungen in komplexen Gesellschaften freiwillig; während dort das Kollektiv im Vordergrund stehe, gehe es hier um das Individuum; während dort Gefühle der Loyalität erweckt würden, seien die Freizeitveranstaltungen eher als Ware zu begreifen. Aufgrund dieser Unterschiede sah Turner sich genötigt, nun, anders als in The Ritual Process, den Begriff des Liminalen nur auf Rituale anzuwenden. Für Veranstaltungen der Freizeitgattungen, die durchaus Merkmale mit ihnen teilen mögen, wie zum Beispiel das Ludische und Experimentelle, das hier sogar sehr viel stärker ausgeprägt sei, führte er in Vom Ritual zum Theater den Begriff des Liminoiden ein. Obwohl dieser nachfolgend durchaus vereinzelt von Kulturwissenschaftlern aufgegriffen und verwendet wurde, setzte er sich letztlich nicht durch. Stattdessen trat der Begriff des Liminalen seinen Siegeszug sowohl in den Kultur- als auch in den Kunstwissenschaften an. Dies wurde durch die spezifische Rezeption ermöglicht und begünstigt, die er zum einen in der Ethnologie, zum anderen in der Theaterwissenschaft erfuhr.
Inhalt
Einleitung: Zur Aktualität von Turners Studien zum Übergang vom Ritual zum Theater Erika Fischer-Lichte i Einführung 7 Das Liminale und das Liminoide in Spiel, ''Fluß'' und RitualEin Essay zur vergleichenden Symbologie 28 Soziale Dramen und Geschichten über sie 95 Dramatisches Ritual - Rituelles Drama Performative und reflexive Ethnologie 140 Theaterspielen im Alltagsleben und Alltagsleben im Theater 161 Literatur 196
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