Beschreibung
InhaltsangabeInhalt Vorwort Brasilien in der Globalgeschichte Georg Fischer, Christina Peters und Frederik Schulze Gilberto Freyre: Nationalhistoriker oder Vordenker der Globalgeschichte? Debora Gerstenberger Nationalismus aus transnationaler Sicht: Wissenschaft, Rassismus und Nation in Brasilien um 1900 Sérgio Costa Ring oder >Akademie<? Die Entstehung der modernen Capoeira-Stile und ihr globaler Kontext Matthias Röhrig Assunção Sind Afroamerikaner Afrikaner oder Amerikaner? Rassismus und brasilianische Einwanderungspolitik der 1920er Jahre Jeffrey Lesser Von Indigenen, Europäern und Japanern: die Globalisierung Paranás im frühen 20. Jahrhundert Ursula Prutsch Anarchismus und Syndikalismus in São Paulo in transnationaler Perspektive, 1895-1935 Edilene Toledo und Luigi Biondi "Veränderte Distanz von der Heimat verändert das innere Maß": Europa und Brasilien im Blick zweier Reisender in den 1930er Jahren Karen Macknow Lisboa Deutschland und Brasilien, 1871-1945: Beziehungen zwischen Räumen Stefan Rinke Beziehungen zwischen Brasilien und der deutschsprachigen Welt in Wissenschaft und Medizin, 1850-1918 Jaime L. Benchimol Ernährungspolitik im Estado Novo: die >Milchrevolution< von Rio de Janeiro Sören Brinkmann Die Yankee City São Paulo im verzeitlichten Atlantik: die Nerven- und Modernekrankheit Neurasthenie Sebastian Dorsch Weiß, männlich, Mittelschicht: Regionalismus, Transnationalismus und Klassenidentität im São Paulo des frühen 20. Jahrhunderts Barbara Weinstein Autorinnen und Autoren Karte
Autorenportrait
Stefan Rinke ist Professor, Georg Fischer wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lateinamerika-Institut der FU Berlin. Christina Peters ist Leiterin des Verbindungsbüros der FU in São Paulo, Frederik Schulze wissenschaftlicher Mitarbeiter für Globalgeschichte mit Schwerpunkt Lateinamerika am Friedrich-Meinecke-Institut der FU.
Leseprobe
Brasilien in der Globalgeschichte* Georg Fischer, Christina Peters und Frederik Schulze Einleitung "In gefährdeten Innenstädten leben beschlipste Angestellte in videobewachten, nach dem alten Schloss-Prinzip eng verschachtelten Hochhäusern - Trutzburgen, die von transnationalen Konzernen bestückt und regiert werden." So stellte sich Ulrich Beck 1997 das Endstadium der Globalisierung oder, wie er meinte, die "Brasilianisierung Europas" vor. 15 Jahre später gilt Brasilien als selbstbewusster Akteur in der Globalisierung. Das Land verfügt über die sechstgrößte Volkswirtschaft und ist als Rohstoffexporteur und zunehmend auch als politischer Akteur in internationale Zusammenhänge eingebunden. Kulturelle Ausdrucksformen aus Brasilien wie etwa die Capoeira sind zu global verständlichen Zeichen geworden. Dasselbe gilt jedoch auch für das Bild der sozialen Ungleichheit und der Gewaltprobleme des Landes, auf die Beck sich in seinem während der Hochphase der neoliberalen Reformen verfassten Text bezog. Vor diesem Hintergrund überrascht es, dass Brasilien und auch Lateinamerika in der historischen Globalisierungsforschung kaum eine Rolle spielen. Christopher Bayly und Jürgen Osterhammel etwa interessieren sich in ihren großen globalgeschichtlichen Synthesen des 19. Jahrhunderts stärker für Indien, China, Japan und selbst Neuseeland. Ähnlich lautet der Befund für Einzelstudien, die zum Kanon der globalhistorischen Literatur zum 19. und 20. Jahrhundert gehören. Gleichzeitig scheint auch in Lateinamerika die globalhistorische Debatte "noch ganz am Anfang" zu stehen, wie jüngst Sebastian Conrad und Andreas Eckert bemerkt haben. Globalgeschichte als Forschungsperspektive entstand ab den 1990er Jahren angesichts unterschiedlicher Problemlagen. Erstens wandten sich kulturgeschichtliche Ansätze mit der Betonung von Diskursen, Wissenszirkulationen und Bewegungen von Akteuren gegen die strukturalistische Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Zweitens wurde der nationalstaatliche Rahmen zunehmend als zu eng und statisch empfunden. Stattdessen deuteten transnational angelegte Arbeiten die Nation und regionale Einheiten als Ergebnis globaler Interaktion. Drittens regte die Globalisierungserfahrung um 2000 historische Forschungen zu früheren Phasen globaler Integration an, für die Globalhistoriker die Jahrzehnte um 1900 als einen Höhepunkt benannt haben. Dabei wird Globalisierung als heterogener, fragmentarischer und nicht linear verlaufender Prozess verstanden, in den Regionen und lokale Kontexte in unterschiedlicher Weise und Intensität eingebunden sind. Viertens richtete sich die postkoloniale Kritik gegen Erzählungen, die Europa als impliziten oder expliziten Fixpunkt hatten, und betonte Rückwirkungen von den Kolonien auf die Metropolen. Fünftens wurden mithilfe des Verflechtungsbegriffs Ansätze wie der historische Vergleich und die Transfergeschichte weiterentwickelt, um die gegenseitige Beeinflussung von Vergleichseinheiten zu erfassen. Diese Punkte inspirierten den Ansatz der Globalgeschichte, der nach globalen Verflechtungen fragt, aber kein klar umrissener Theorieansatz ist. Globalgeschichtliche Fragestellungen entstanden teilweise aus der Perspektive der asiatischen Geschichte und teilweise aus einer inneren Kritik des westlichen Wissenschaftssystems und waren daher zunächst wenig an Lateinamerika interessiert. Erst 2004 erschien ein Themenschwerpunkt in der Hispanic American Historical Review, mit dem US-amerikanische Historikerinnen und Historiker versuchten, Lateinamerika in die Debatte über world history einzubringen. Lauren Benton führte die Marginalisierung Lateinamerikas in diesem Feld darauf zurück, dass der Kontinent oft als Sonderfall betrachtet werde. Sie regte an, nicht die Andersartigkeit Lateinamerikas hervorzuheben, sondern die transnationalen Verflechtungen zu untersuchen, die Lateinamerika in den globalen Kontext einbanden. Jeremy Adelman argumentierte, dass Lateinamerika nicht als passives Objekt, sondern als eigenständiger Akteur Globalisierungsprozesse beeinflusst habe und ein Beispiel für die heterogene Ausgestaltung der Integration der Welt sei. Auch Barbara Weinstein hat in anderem Zusammenhang den wichtigen Beitrag der lateinamerikanischen Historiographie für eine polyzentrische Globalgeschichtsschreibung und den Versuch, Europa in der Geschichte zu provinzialisieren, herausgestellt. In ähnlicher Weise hat für die frühe Neuzeit Bernd Hausberger jüngst vom kolonialen Lateinamerika als "Experimentierfeld vielfältiger globalgeschichtlicher Entwicklungen" gesprochen, wo sich Verflechtungsprozesse besonders gut beobachten ließen. Dass Lateinamerika dennoch von der Globalgeschichte marginalisiert werde, liege an einem globalisierten und auf Englisch ausgerichteten Wissenschaftsbetrieb, dessen Angehörige sich nicht mehr die Mühe machten, beispielsweise Spanisch zu lernen. Hier deutet sich die nicht immer konfliktfreie Beziehung zwischen den so genannten area studies, also der interdisziplinären Forschung zu bestimmten Weltregionen, und der Globalgeschichte an. Während die area studies Regionalexpertise einfordern, versucht die Globalgeschichte, althergebrachte räumliche Einheiten zu hinterfragen. Am Beispiel Brasilien, das umfassend in Globalisierungszusammenhänge eingebunden war und ist, sich jedoch sprachlich und historisch teilweise deutlich von Hispanoamerika unterscheidet, wird dieser Gegensatz besonders deutlich, da es von Globalhistorikerinnen und Globalhistorikern kaum berücksichtigt wird und brasilianische Geschichte bislang ohne ein globales Paradigma auskommt. Welche Gründe können dafür angeführt werden? Lassen sich Themen der brasilianischen Geschichte im Lichte der Globalgeschichte besser verstehen? Welchen Beitrag könnte die brasilianische Geschichte empirisch und konzeptionell für die Diskussion spielen? Diese Einleitung versucht, diesen Fragen nachzugehen, indem sie Brasilien und Lateinamerika mit den globalhistorischen Debatten der letzten Jahre in Beziehung setzt. Zunächst geben wir einen Überblick über die Grundlinien der brasilianischen Geschichte. Im Mittelpunkt steht dabei der Untersuchungszeitraum des vorliegenden Bandes, der mit der Reformära im brasilianischen Kaiserreich 1870 beginnt und mit dem Ende des autoritären Estado Novo 1945 abschließt und damit sowohl den Globalisierungshöhepunkt um 1900 als auch den Globalisierungsrückgang der 1930er Jahre umfasst. Im darauf folgenden Abschnitt umreißen wir die historiographischen Ansätze, die Lateinamerika und Brasilien bisher in ihren globalen Bezügen analysiert haben. Wir argumentieren, dass es in der Geschichte Lateinamerikas eine lange Tradition des Denkens in globalen Zusammenhängen gibt und versuchen zu erklären, warum Lateinamerika dennoch in den aktuellen globalhistorischen Debatten an Bedeutung verloren hat. Im letzten Schritt untersuchen wir anhand von kurzen Forschungsberichten zu konkreten Themenfeldern, inwieweit die vorliegenden empirischen Arbeiten zum genannten Zeitraum globale Bezüge mitdenken und wo noch Leerstellen zu verzeichnen sind.
Schlagzeile
Globalgeschichte Herausgegeben von Sebastian Conrad, Andreas Eckert und Ulrike Freitag