Die Märkte korrumpieren die Politik, sagen die einen. Der regulierende Staat erstickt die Wirtschaft, sagen die anderen. Neue Ideen braucht das Land, sagt Gerhard Schick! Er fordert eine undogmatische Politik, die vor allem eines will: die Interessen der Bürger vertreten. Eine, die sich egoistischen Investmentbankern, verantwortungslosen Staatsdienern und »kreativen Steuerzahlern« entgegenstellt und den Lobbyismus in die Schranken verweist.Wo sind die Rettungsmilliarden geblieben? Wie stopft man die Steuerschlupflöcher von Facebook und Co.? Warum dient Politik den Banken? Schick stellt die entscheidenden Fragen und ist bereit für den Angriff auf »big business« und »bad state«.
Gerhard Schick, Jahrgang 1972, grüner Politiker, gilt als einer der versiertesten Ökonomen im Bundestag. Der promovierte Volkswirt genießt nicht nur in den eigenen Reihen einen Ruf als Experte. Als Parlamentarier kämpft er leidenschaftlich auf der Seite des Bürgers. Schick ist der Grüne der Zukunft.
EINLEITUNG
Was ist das eigentlich für eine Wirtschaft, in der uns reihen-weise Produkte angeboten werden, die uns als Kundinnen und Kunden schaden? Warum werden in unseren reichen Gesellschaften so viele schlechte Nahrungsmittel mit viel billigem Zucker und Fett verkauft? Wie sinnvoll ist denn ein Wirtschaftssystem, mit dem wir unsere ökologischen Lebensgrundlagen zerstören, welches uns wiederkehrende Finanzkrisen beschert und unsere Gesellschaften durch wachsende Ungleichheit zerreibt? Und was taugt eigentlich ein Staat, der mit unserem Steuergeld spekuliert und der nicht mal in der Lage ist, einen Flughafen zu bauen?
Diese einzelnen Beispiele, aber auch im Großen die Klima-, Finanz- und Verteilungskrisen zeigen uns in aller Deutlichkeit, dass etwas grundsätzlich schiefläuft. Unsere Wirtschaft ist nicht mehr für die Menschen da. Die Bedürfnisse von uns allen spielen kaum noch eine Rolle. Was zählt, sind Macht und Geld. Ich nenne diese Wirtschaftsordnung, in die wir eingebunden und der wir ausgesetzt sind, deshalb Machtwirtschaft. Unternehmen müssen sich nicht mehr an den Bedürfnissen der Menschen ausrichten, sondern kontrollieren sie gar, bringen sie dazu, Produkte zu kaufen, die die gewünschten Eigenschaften gar nicht aufweisen. Im machtwirtschaftlichen Wettstreit großer Unternehmen spielt die Leistung im Sinne der Kundinnen und Kunden eine geringere Rolle als Finanzkraft und Marktmacht. Da genau liegt der Unterschied zur Marktwirtschaft, in der die wirtschaftlichen Aktivitäten auf die Bedürfnisse der Menschen hin ausgerichtet sein sollen.
Eigentlich gibt es genau dafür den Staat, um solche Machtstrukturen zu verhindern - als Interessenvertreter des Gemeinwohls, der sich einer Entwicklung zur Machtwirtschaft entgegenzustellen und dafür zu sorgen hat, dass der Wohlstand bei allen ankommt. Doch auch im politischen Raum gibt es eine Verbindung von Macht und Geld. Die Vermachtung unserer Wirtschaft findet hier ihr Gegenstück. Weniger das Wohl der Bürgerinnen und Bürger eines Landes als vielmehr die Verbindung zu den finanzstarken Interessen ist häufig ausschlaggebend im politischen Prozess. Große Unternehmen und Staat stehen häufig eher in einer symbiotischen Beziehung, als dass der Staat die großen Unternehmen kontrollieren würde. Oder der Staat wird zum Getriebenen der Finanzmärkte, statt diesen Regeln zu geben. Deswegen setzen viele Menschen trotz des eklatanten Versagens der losgelassenen Märkte nicht einfach auf den Staat. Sie empfinden die demokratischen Prozesse als vorgeschoben, erfahren sie als nicht relevant, weil die eigentlichen Entscheidungen woanders stattfinden.
Deswegen braucht es neue Konzepte und neue politische Strategien. Die zentrale Auseinandersetzung ist nicht, wie uns häufig eingeredet wird, eine zwischen Staat und Markt. Denn gerade die Manager, die häufig über Marktwirtschaft reden und den Sozialstaat als überzogen hinstellen, beziehen sehr gerne milliardenschwere staatliche Subventionen. Und umgekehrt muss, wer sich für die Interessen der kleinen Leute einsetzen will, oft erst einmal marktwirtschaftliche Strukturen gegen bestehende Oligopole durchsetzen und eine einseitige Parteinahme des Staates zugunsten der wirtschaftlich Starken überwinden.
Es geht auch nicht um Deutschland gegen Griechenland oder Deutschland gegen die Schweiz. Diese Länderspiele überlassen wir besser dem Fußball. Es braucht keine Kavallerie gegen die Schweiz und keinen Euro-Austritt Griechenlands. Was es braucht, ist eine progressive europäische Politik, die wieder die Interessen der breiten Mehrheit der Menschen in den Blick nimmt und deswegen gegen die Steuerhinterzieher sowohl in Deutschland als auch in Griechenland sowie ihre Helfer in den Schweizer Banken vorgeht. Denn beim heutigen System gibt es in jedem Land nur wenige Profiteure. Die Mehrheit in allen Ländern profitiert hingegen jeweils nicht davon. Deswegen sollte man diese Konflikte auch nicht national aufladen.
Die zentrale Auseinandersetzung ist in Wirklichkeit eine ganz andere: Gemeinwohl versus Machtwirtschaft. Und genau dieser Gegensatz ist Thema meines Buches. Aber es geht mir nicht nur darum, diese Auseinandersetzung zu schildern und ein paar Gesetzesvorschläge zu machen, um das Gemeinwohl zu fördern. Das haben wir Grünen schon in vielen Parlamentsanträgen gemacht. Nein, ich schreibe dieses Buch, weil wir diese Auseinandersetzung nicht gewinnen können, wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, nicht stärker Teil davon werden. Das ist meine feste Überzeugung nach acht Jahren parlamentarischer Arbeit im Deutschen Bundestag: Sie müssen mitmachen. Und mitmachen können Sie nur, wenn Sie Bescheid wissen über die Strukturen in unserer Wirtschaft und Gesellschaft. Ich will deshalb mit diesem Buch meinen Teil beitragen zu einer Politik, die nicht über Sie spricht, sondern mit Ihnen gemeinsam dafür sorgt, dass wir die Kontrolle über unser Gemeinwesen wieder zurückerlangen.
KAPITEL 1
DA LÄUFT WAS SCHIEF
PRODUKTE, DIE UNS SCHADEN
Wir alle kennen es, dass wir uns nach dem Kauf eines Produktes ärgern, dass wir es gekauft haben. Die CD gefällt uns nicht, das Obst ist nicht reif, auf der viel gepriesenen Matratze tut der Rücken am Morgen doch weh. Das sind Einzelfälle, die es immer geben wird. Was ich aber beobachte, ist, dass es ganze Bereiche gibt, in denen - häufig für den Kunden schwer erkennbar - schlechte Produkte sehr zahlreich sind. Und ich frage mich: Ist das die Wirtschaft, die wir wollen? Wo es ganze Produktgruppen gibt, die dem Kunden keinen Nutzen bringen oder ihm sogar schaden?
Fett und Zucker
In dem Discounter gegenüber meiner Wohnung im Mannheimer Stadtteil Neckarstadt besteht grob geschätzt etwa ein Sechstel der Verkaufsfläche aus Junkfood, also aus Knabberzeug und süßen Riegeln und so. Übrigens jeweils taktisch geschickt präsentiert am Eingang, wenn der Wagen noch leer und der Hunger groß ist, und an der Warteschlange vor der Kasse. Ökonomisch überlegt: Wenn so viel Verkaufsfläche dafür bereitgestellt wird, scheint gerade in diesem Teil des Sortiments auch besonders viel Umsatz und Ertrag zu stecken. Und das lässt Rückschlüsse darauf zu, wie sich die Menschen in meiner Umgebung in Mannheim so ernähren.
Doch das Ungesunde steckt nicht nur da. Ungesunde Ernährung hat viel zu tun mit Krankmachern auch in Müsli, Brot, Fruchtjoghurt oder Leberwurst. Besonders industriell verarbeitete Lebensmittel sind längerfristig ungesund, denn darin verstecken sich viel Fett, Zucker, Salz und alle möglichen geschmacksfördernden Zusatzstoffe. Und wir alle - der eine mehr, die andere weniger - fahren heute ab auf die praktischen, immerfrischen, leckeren Häppchen, deren gesundheitlicher Wert fraglich ist.
Doch der hemmungslose Konsum von Fett und Zucker ist verantwortlich für die Ausbreitung nicht ansteckender Krankheiten: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Diabetes, Übergewicht - um nur einige zu nennen. Diese Krankheiten verursachen Todesfälle epidemischen Ausmaßes und sind eng mit den Profitinteressen transnationaler Konzerne verwoben. Denn die profitieren von stärkerem Konsum der sogenannten "ungesunden Güter", die günstig zu produzieren sind. Profite und Pandemien heißt, in deutscher Übersetzung, eine Studie der renommierten Wissenschaftszeitschrift The Lancet von 2013,2 die für einige Furore gesorgt hat. Denn die unabhängigen (!) Autoren beschreiben darin, wie die Nahrungsmittelindustrie ganz ähnliche Strategien fährt wie seinerzeit die Tabaklobby. Studien werden gefälscht oder zugunsten der Industrie stark beeinflusst, politische Entscheidungsträger wer-den eingespannt, Regulierungsfragen mit viel Geld entschieden, Regierungen wird Hilfe bei der Formulierung der Gesetze angeboten, Konsumenten werden gegen jegliche Regulierung in Stellung gebracht ("Wollen Sie wirklich, dass man Ihnen vorschreibt, was Sie essen dürfen ?"). Weil es eben viel Geld zu verdienen gibt.
Und ist es nicht merkwürdig, dass sich gerade in reichen Gesellschaften die Menschen immer mehr mit Zucker und Fett vollstopfen? Es liegt wohl daran, dass industriell gefertigte Lebensmittel unseren Stoffwechsel austricksen. "Fast Food macht so süchtig wie Heroin", stellte eine US-Forschergruppe in der seriösen Zeitschrift Nature Neuroscience den Sachverhalt drastisch klar. "Das Hirn spielt Fettleibigen, die den Konsum von kalorienreichem, ungesundem Essen nicht lassen können, den gleichen Streich wie Rauchern, Sex-, Heroin- und Kokainsüchtigen. [] Je mehr sie zulangen, desto mehr Nachschub verlangt das Gehirn, um das gleiche Glücksgefühl wie beim letzten Mal zu erzeugen", fasst das Handelsblatt die Ergebnisse treffend zusammen.
Freiheit bei der Auswahl von Gütern ist etwas anderes. Viele kleine Bäckereien und Konditoreien bieten uns auch Süßes und wenig Gesundes an, jede einzelne könnte uns aber aufgrund der kleinteiligen Struktur nie so systematisch beeinflussen. Die Lebensmittelindustrie hingegen versucht, uns auszutricksen. Natürlich gelingt ihr das nicht bei allen Menschen in gleicher Weise. Aber letztlich können selbst gut informierte Verbraucher sich nicht völlig vor dieser Einflussnahme schützen.
Fleisch und Antibiotika
Anderes Beispiel: In der Nähe des Häuschens meiner Schwiegereltern steht ein Geflügelhof. In regelmäßigen Ab-ständen bringt ein Lastwagen Tausende kleiner Küken und holt sie nach einigen Wochen, wenn sie schlachtreif sind, wieder ab. Eine industrielle Fertigung von Fleisch, die sich von der industriellen Fertigung von Weißblechdosen oder Schrankteilen nicht wirklich unterscheidet. Interessant ist, dass die Bauernfamilie für sich und den Verkauf an die Nachbarn und Freunde immer einige Küken zur Seite nimmt und traditionell füttert. Selber essen sie das, was sie für den Markt produzieren, nicht. Das muss einen stutzig machen.
Tatsächlich gibt es gute Gründe, industriell erzeugtes Fleisch nicht zu essen. Mittlerweile tragen aufgrund der hohen Antibiotika-Gaben in der industriellen Fleischproduktion 6,4 Millionen Menschen in Deutschland gegen verschiedene Antibiotika-Gruppen multiresistente Keime in sich. Wenn sie also selbst einmal behandelt werden müssen, wird es gefährlich. Tausende Patienten sterben bereits in Deutschland an eigentlich behandelbaren Krankheiten, weil die Erreger gegen die wirksamen Medikamente resistent sind.4 Hinzu kommt die teilweise hohe Belastung von Lebensmitteln mit Pestiziden und anderen Chemikalien, die in der industriellen Landwirtschaft eingesetzt werden und schädliche Wirkungen auf die Gesundheit derer haben, die diese Lebensmittel verzehren.
Läuft da nicht etwas schief, wenn wir nicht die Lebensmittel bekommen, die uns guttun, sondern uns bei wachsendem gesellschaftlichen Wohlstand inzwischen teilweise eher schlechter ernähren? Und wenn Unternehmen uns an Stellen austricksen können, wo wir es gar nicht merken? Wenn wir durch den Kauf und Konsum von industriell produziertem Fleisch unsere Gesundheit gefährden?
INHALTEinleitung 71 Da läuft was schief 11Produkte, die uns schaden 12Wachstum ohne Wohlstand 18Scheinvermögen 282 Wirtschaft und Macht 37Marktmacht 39Das Netzwerk der Konzerne 50Vorteile der Größe 54Wachstumszwang und Renditefixierung 603 Die Macht der Finanzmärkte 65Instabilität 66Größe, Vernetzung und Geschwindigkeit 70Starker Einfluss auf die Gesellschaft 79Die Umverteilungsmaschine 854 Staatliches Versagen 95Das Scheitern des Staates als Wirtschaftsakteur und Planer 96Das Scheitern des Staates als Aufsicht 105Ein linkes Dilemma 1115 Mutti Staat 115Einflussnahme und Privilegiensuche 116Eine gefährliche Symbiose 122Mutti kümmert sich 129Der Staat der anderen 1406 Eine Wirtschaft, die den Menschen dient 143Dezentrale Steuerung und Freiheit 145Jenseits der Wachstumsfixierung 149Mehr als Rendite 1617 Wirtschaftliche Macht zurückdrängen 169Aktive Wettbewerbspolitik 170Märkte auf die Kunden ausrichten 180Finanzmärkte: Weniger ist mehr 184Schneisen durch die Finanzmärkte 1918 Kontrolle staatlicher Macht 197Kulturwandel im Staat 198Kräfteverhältnisse ändern 204Transparenz 2129 Gemeinsam das Gemeinwohl zurückerobern 219Eine Herausforderung für unsere Gesellschaft 220Aus der Geschichte lernen: Bürgerprotest in den USA 230Zeit für eine progressive Politik in Europa! 237Die europäische Nicht-Demokratie überwinden 248Mitmachen! Ein Schlussappell 257Dank 261Anmerkungen 263Register 286