Beschreibung
Lateinamerika gilt als eine besonders gewaltreiche Region. Bei näherer Betrachtung war die kollektive Gewalt dort aber keineswegs intensiver als in der Geschichte Europas, sondern nur anders strukturiert. Über weite Strecken der neueren Geschichte war der Staat in Lateinamerika nur ein Gewaltakteur unter vielen, ein Gewaltmonopol errang er nicht. Stattdessen überwog eine »staatsferne« Gewalt, die Michael Riekenberg ins Zentrum seines Buches rückt. Mithilfe der Theorie und anhand dichter Beschreibungen beleuchtet er dieses Geflecht näher und versucht, dem Leser Bedeutungen der Gewalt im Milieu der Staatsferne vor Augen zu führen. Damit wirft er ein neues Licht auf die Geschichte Lateinamerikas seit 1500.
Autorenportrait
Michael Riekenberg ist emeritierter Professor für Vergleichende Geschichtswissenschaft und Geschichte Lateinamerikas an der Universität Leipzig. Er gilt als einer der führenden Gewaltforscher zur Geschichte Lateinamerikas.
Leseprobe
I Einführung 1 Gegenstand Mich interessiert in diesem Buch nicht die Gegenwart der Gewalt in Lateinamerika, die Zeitangabe im Titel sagt es bereits aus. Auch werden auf den folgenden Seiten keine Entwicklungen der Gewalt, die ins Heute münden oder gar in die Zukunft reichen würden, beschrieben. Denn Gewalt entwickelt sich nicht, sie verändert nur ihr Dasein. Dieses Buch folgt einem anderen Gedanken. Es soll Gewalt auf der Grundlage des Wissens verstehen, das Menschen, die Gewalt begingen, von ihr besaßen. Sicherlich können wir deshalb von der Gegenwart nicht absehen. Denn es ist ja die Gegenwart, in der wir leben, die uns erst die Fragen stellen und die Begriffe hervorbringen lässt, in denen wir Geschichte erzeugen. Insofern bleibt sie der Ausgangspunkt unserer Betrachtung, wir besitzen keinen anderen. Deswegen ist es nur redlich, dem Leser zu Beginn zwei, drei Streiflichter gegenwärtiger bzw. zeithistorischer Gewalt in Lateinamerika vor Augen zu führen, um zu zeigen, von welchen Eindrücken der Gewalt ich ausgegangen bin, als ich dieses Buch zu schreiben begann. Denn alles, was in diesem Buch steht, wäre ohne diese Eindrücke nicht geschrieben worden, und insofern läuft auch alles wieder auf sie hinaus. Somit ist die Gegenwart aber auch viel tiefer in dieses Buch eingeschrieben, als wenn es nur um ihre Erklärung ginge. Am Anfang standen persönliche Erlebnisse wie die im Sommer, die Regenzeit, des Jahres 1985. Damals kam es in der Stadt Guatemala zu tagelangen Unruhen, die durch Sparvorgaben des Internationalen Währungsfonds ausgelöst waren. Vor allem die Erhöhung der Busfahrpreise trieb den Protest auf die Straße. In den Randvierteln der Stadt rotteten sich Angehörige der Stadtarmut und krawallbegeisterte Jugendliche zusammen, und die Studenten der größten Universität des Landes, San Carlos, erklärten ihre Solidarität. Als eine Menschenmenge zur Universität zog, stellte sich ihr auf einer Ausfallstraße die militarisierte Bereitschaftspolizei entgegen, in blaue Uniformen gekleidet, mit alten Reichswehrstahlhelmen, Zeugnis früherer deutscher Entwicklungshilfe, bewehrt und mit Karabinern bewaffnet. Eine Fernsehkamera übertrug, was nun geschah. Wer einen heftigen Ausbruch der Gewalt erwartet hatte, als die aufrührerische Menge auf die Polizistenkette traf, sah sich getäuscht. Stattdessen stellten sich der kommandierende Polizeioffizier und der Anführer der Menge zwischen den Linien zusammen. Zwar war nicht zu hören, was gesprochen wurde. Aber man sah, wie beide miteinander plauderten, es wurde gelacht und geraucht, ehe man wie im Einvernehmen wieder auseinander ging. So hielt die Kamera ein Bild fest, das den Beobachter irritierte, weil es den Eindruck hinterließ, zwei Ebenbürtige wären einander begegnet. Jede Distanz, die beim Aufeinandertreffen des Polizeioffiziers mit dem Anführer der Menge zu erwarten gewesen wäre, fehlte: sei es die Distanz zwischen Staatsgewalt und Aufrührer oder die zwischen dem Fachmann und dem Laien der Gewalttat, die soziale Distanz zwischen reich und arm oder die Distanz im Habitus. Im Lauf der Jahre und während der näheren Beschäftigung mit der Geschichte kollektiver (denn nur um sie geht es in diesem Buch) Gewalt in Lateinamerika, gesellten sich zu dieser Erinnerung andere Bilder und Erzählungen hinzu. Eine, die mir besonders in Erinnerung geblieben ist, ist eine preisgekrönte Reportage, die die Journalistin Eva Karnofsky über ein Gefängnis im venezolanischen Bundesstaat Miranda schrieb. Karnofsky (2000) interessierte sich in ihrer Recherche für die Topographie der Gewalt. Sie beschrieb, wie in dem Gefängnis die Aufseher bloß noch die Treppen kontrollierten, die die verschiedenen Stockwerke, auf denen die Zellentrakte liegen, verbinden, während auf den Etagen selbst Banden herrschten. Diese bekriegten einander bei sich bietender Gelegenheit, sie trachteten sich gegenseitig nach dem Leben, so wie sie es bereits in der Rivalität der Stadtviertel getan hatten, in der sie aufgewachsen waren. Die Aufseher vermochten diese Gewalt nicht zu unterbinden. Sie wagten sich nur auf die Treppen, nicht weiter: "Die Eisentreppe ist mit einer fingerdicken, harten Schicht aus Erde, Abfällen und Kot überzogen. Der ätzende Gestank nach Scheiße, Pisse und Schweiß treibt die Tränen in die Augen. Der Magen rebelliert, ein Taschentuch vor Mund und Nase schafft kaum Erleichterung. Auf den Treppenabsätzen zwischen den Etagen sitzen jeweils zwei Wärter in hellbrauner Uniform, versteinert das Gesicht, das Gewehr im Anschlag für den Fall, dass sich etwas regt auf der Treppe. Auf die Flure trauen sich die Wächter nicht, aus Angst vor den Gefangenen" (Karnofsky 2000: 6). Oder kürzlich, um ein letztes Beispiel zu geben, las ich einen Text über die Bandengewalt in Brasiliens Großstädten. Dort bildeten sich vor einigen Jahren zunächst in São Paulo, dann in anderen Metropolen des Landes comandos. Dies sind bewaffnete Gruppen, die ursprünglich in den Gefängnissen entstanden, ehe sie ihre Aktivität von dort auf den städtischen Raum verlegten. In der Stadt organisierten sie für die Bevölkerungen in den Armenvierteln soziale Dienstleistungen, einem Staat ähnlich. Zugleich griffen sie Polizeistationen, Verwaltungen und Banken an und legten mittels ihrer Gewalttat die öffentlichen Verkehrsmittel lahm, was in einigen Städten zeitweilig zur Paralyse öffentlicher Räume führte. Besonders bemerkenswert ist, dass die comandos, um ihre Gewalt zu rechtfertigen, eine Sprache des Rechts nutzten, während sie dem Staat zugleich die Berechtigung absprachen, über Recht und Unrecht zu befinden, weil der Staat und seine Organe das selbst erlassene Gesetz mit Füßen treten würden. Deswegen sei ihre eigene Gewalt begründet und legitim, und der Staat besitze kein Recht, sich über diese Gewalt zu stellen (vgl. Holston 2008). Was haben diese Geschichten, die sich um zahllose andere gleicher Art ergänzen ließen, trotz ihrer Unterschiede gemein? Betrachten wir die Gewaltbeziehungen, die sich darin manifestieren, und abstrahieren soweit es geht von situativen Gegebenheiten und kontingenten Momenten, so zeigt sich, ohne den methodischen Überlegungen in diesem Kapitel vorgreifen zu wollen, eine Regelmäßigkeit. Diese lässt sich an einer Reihe von Merkmalen festmachen. So verfügt der Staat in den erzählten Geschichten über kein Monopol der Gewaltausübung, und die Gewaltorganisation weist, was ihre Legitimität angeht, keine feste, im Recht begründete Hierarchie auf. Stattdessen herrschen ungefähr symmetrisch gelagerte Beziehungen zwischen verschiedenen Gewaltakteuren unterschiedlicher Herkunft vor, die für sich je ein gleiches Recht an der Gewalt beanspruchen. In diesen sich überschneidenden Ansprüchen verschiedener Gewaltakteure scheint jeder von ihnen zur Gewalt befugt, so wie der Staat es ist. Die Folge ist, dass geläufige, obgleich deswegen keineswegs eindeutige Unterscheidungen wie die in politische und unpolitische Gewalt oder, wie wir in diesem Buch noch sehen werden, die in kriegerische und zivile Gewalt unter diesen Bedingungen verschwimmen, weil die Gewalt darin andere Bedeutungen eingeht, ohne dass diese einfach nach außen sichtbar wären. In der Literatur wird diese Regelmäßigkeit, wie sie hier kurz skizziert ist, im Begriff der "horizontalen Gewalt" (Martin 2000: 163) oder der "Gewalt zwischen Gleichen oder Fast-Gleichen" (Deas 1997: 356) zusammengefasst, ich bezeichne sie notdürftig als staatsferne Gewalt. Notdürftig ist dieser Begriff deshalb, weil "Staatsferne" zunächst einmal nur eine Metapher ist, mehr nicht, die im Folgenden in begrifflicher wie theoretischer Hinsicht der Ausarbeitung bedarf. Aber sie, die Staatsferne, ist der Eindruck, der am Anfang dieses Buches stand und uns in die Geschichte führt. Deshalb steht sie auch zu Recht im Titel dieses Buches. Man mag an dieser Stelle einwenden, dass die drei Geschichten aber von Ausnahmesituationen handeln - ein städtischer Aufruhr, der als solcher ja außeralltäglich ist; die Topographie eines Gefängnisses, w...
Schlagzeile
Mikropolitik der Gewalt