Beschreibung
Karl Kraus war neben Georg Christoph Lichtenberg der wohl bedeutendste deutschsprachige Satiriker. 1899 gründete er die Zeitschrift Die Fackel, die er nicht nur zu einem der führendsten Medien für Kultur- und Gesellschaftskritik, sondern auch zum 'Gewissen seiner Zeit' entwickelte. Kein Autor des 19. und 20. Jahrhunderts hat mit derart unablässiger Leidenschaft den Wörtern und Wendungen seiner Zeitgenossen, dem Umgang mit der deutschen Sprache nachgespürt, der Korruption und 'Preßdiktatur', den heuchlerischen Sittenprozessen, vor allem aber der bürgerlich-patriarchalen Doppelmoral den Kampf angesagt wie dieser einsame Meister der Ironie. Seine in Aphorismen gegossenen Ansichten, Essays und Kritiken in ihrer gewaltigen, thematischen Vielfalt faszinieren und polarisieren noch heute.
Autorenportrait
Karl Kraus (1874-1936) war ein österreichischer Satiriker. In den fast tausend Nummern seiner Zeitschrift Die Fackel entlarvte er wortgewaltig die Doppelmoral seiner Zeit, die Phraseologie der Presse und einen verkommenen Literaturbetrieb. Aufgrund seines großen Dramas über den Ersten Weltkrieg, Die letzten Tage der Menschheit, wurde er von Professoren der Pariser Sorbonne für den Friedensnobelpreis und den Literaturnobelpreis vorgeschlagen.
Leseprobe
Die Geburt des Gedankens aus der Sprache Vorbemerkung zu dieser Ausgabe Dass gerade zur sprachlichen Kurzform des Aphoris-mus der längste Atem gehöre, hat Karl Kraus selbst formuliert. Diese kondensierteste Form des sprachli-chen Ausdrucks ist zugleich höchst anspruchsvoll. Viele Essays und Glossen mündeten bei Karl Kraus wie von selbst in diese literarische Abbreviatur ein, und gerade einige seiner brillantesten Texte muten in ihrer Pointierungskunst wie eine Aneinanderreihung von Aphorismen an, etwa sein Essay über Heine und die Folgen (Kraus 2018, 17-45). So wuchsen die drei Aphorismenbände, die Karl Kraus selbst zwischen 1906 und 1919 herausgegeben hat, organisch aus seiner satirischen Zeitschrift, Die Fackel, heraus, die es auf fast 1000 Nummern brachte. Vielen gilt Kraus als der grösste Virtuose auf dem Gebiet dieser literarischen Gattung. Unverkennbar aber sind seine Vorbilder. An erster Stelle ist hier Georg Christoph Lichtenberg mit seinen Sudelbüchern zu nennen, dem Kraus selbst einen Aphorismus widmet. Dann natürlich Johann Nestroy, dessen über achtzig volkstümliche Komödien gerade aufgrund ihres genialen Umgangs mit der Sprache trotz ihrer Dialektgebundenheit zur Weltliteratur wurden. In seinem bedeutenden Essay über Nestroy (Nestroy und die Nachwelt, vgl. Kraus 2018, 56-79) zeigt Kraus selbst auf, wie es Nestroy mithilfe der sparsamsten Stilmittel gelingt, die Sprache dazu zu bringen, von selbst ihre Pointen abzuwerfen. Sicher stehen auch Goethes Maximen und Reflexionen Pate, und die Nähe zum Aphoristiker Friedrich Nietzsche ist unverkennbar, auch wenn sie Karl Kraus nicht zugeben mag. Dagegen zielt etwa Oscar Wilde, dem Kraus ansonsten höchsten Respekt zollt, eher auf den oberflächlichen Effekt ab. Dieser Auswahlband orientiert sich in seiner Gliederung an den Titeln der zu Kraus Lebzeiten erschienenen Bände (Sprüche und Widersprüche, Pro domo et mundo, Nachts), legt die letzte von ihm selbst redigierte Fassung zugrunde und behält auch die Anordnung samt den von Kraus selbstgewählten Kapitelüberschriften bei. Bereits vor etlichen Jahren ist im marixverlag ein erster Auswahlband erschienen (Kraus 22016)1, der mit diesem Band nun seine Ergänzung erfährt. Zur inhaltlichen Einord-nung in das Gesamtwerk von Karl Kraus sei deshalb auf meine ausführliche Einleitung in diesem ersten Band verwiesen. Thematisch spiegeln die Aphoris-menbände die Schwerpunkte des literarischen Wer-kes von Karl Kraus selbst wider: die Philistermoral seiner Zeit, Journalismus und Presse, die ihre kom-merziellen Interessen literarisch verschleiern, die Psychoanalyse, die alles, nur nicht sich selbst zu entlarven imstande ist, einen eitlen Literaturbetrieb und schließlich jene mentale Zurüstung der Gesellschaft, die in die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, in den Ersten Weltkrieg, mündet. Dieser zweite Auswahlband stellt also die von vielen Leserinnen und Lesern gewünschte Ergänzung des Bandes Auch Zwerge werfen lange Schatten dar und reagiert auf die große Resonanz, die jener erfuhr. Bestimmend für die Auswahl waren folgende Krite-rien: Sie sollte möglichst repräsentativ sein und the-matisch die Schwerpunkte des satirischen Werks von Karl Kraus abbilden. Verzichtet wurde auf Texte, die aus heutiger Sicht in Formulierung und Inhalt zu Recht als problematisch, zuweilen auch als unzumutbar, empfunden werden. Das betrifft vor allem Texte zum Geschlechterverhältnis, die heute zum Teil schlicht unverdaulich sind oder zumindest einer längeren erörternden Einordnung bedürften (vgl. dazu meine Einleitung in Kraus 22016). Weggelassen wurden Aphorismen, deren Verständnis längerer Erörterungen ihres zeitbedingten Entstehungskontextes bedurft hätten. So konnte ich mich auf einige wenige spärliche Hinweise in Fußnoten beschränken. Kraus sprengt zuweilen die literarische Form des Aphorismus zugunsten längerer satirischer Betrachtungen. In manchen dieser Fälle habe ich mir erlaubt, nur einzelne pointierte Sätze zu entnehmen, die für sich bestehen können, und dies durch Auslassungspunk-te in eckigen Klammern gekennzeichnet. Seine Popularität bis heute verdankt Karl Kraus neben seinem grossen Weltkriegsdrama, Die letzten Tage der Menschheit, vor allem seinen Aphorismen die leider oft recht oberflächlich rezipiert und ausserhalb ihres Entstehungszusammenhangs als harmlos-witzige Bonmots aufgefasst werden. Dabei stellt die literarische Kurzform des Aphorismus nicht nur für den Autor, sondern auch für die Leserinnen und Leser die höchsten Ansprüche. Gerade das Sperrige, das sich nicht schon beim ersten Lesen erschliesst, sondern zunächst irritiert und uns in unserem eigenen Umgang mit der Sprache verunsichert, ist imstande, uns neue Denkwelten zu erschliessen. Wie von selbst sind Krauses Aphorismen seinem Werk entsprungen und verweisen deshalb auf dieses zurück (vgl. die Literaturangaben im Anschluss). Mögen sie den Leserinnen und Lesern den Zugang erschliessen zu einem Satiriker, der gerade deshalb bis heute so aktuell ist, weil er allem misstraute, was sich als 'Fortschritt' ausgab. Bruno Kern