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Die Frau, die sich verlor

Roman

Erschienen am 16.02.2009
Auch erhältlich als:
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783813503357
Sprache: Deutsch
Umfang: 160 S.
Format (T/L/B): 1.7 x 20.5 x 13 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Die Neuausgabe der Werke von Willa Cather wird fortgesetzt In diesem Roman über eine Frau, deren Welt aus den Fugen gerät, entwirft Willa Cather ein eindringliches Bild vom Ende der Pionierzeit und vom Aufstieg der »seelenkalten neuen Amerikaner«. Marian Forrester ist jung, attraktiv und voller Lebenslust, der strahlende Mittelpunkt des Forrester-Hauses in Sweet Water. Mit ihrem 25 Jahre älteren Mann verbringt sie dort die Sommermonate. Niel, der Nachbarjunge, hat schon früh sein Herz an Marian verloren. Für ihn ist sie das Sinnbild jenes Westens, in dem die Träume der Siedler Wirklichkeit geworden sind. Als Niel einige Jahre später als Erwachsener nach Sweet Water zurückkehrt, hat sich Marians Leben von Grund auf geändert. Ihr Mann ist alt und krank, das Vermögen fast aufgebraucht. Verzweifelt versucht Marian den Schein zu wahren. Aus Einsamkeit flüchtet sie in die Arme junger Männer. Niel verliert jeden Respekt vor ihr, der Zauber ist verflogen. Erst am Ende ihres Lebens begreift er das Geheimnis dieser Frau. In einer Übersetzung von Eva Brückner-Tuckwiller, mit einem Nachwort von Sibylle Mulot.

Leseprobe

Vor dreißig oder vierzig Jahren, in einer der grauen Städte an der Burlington-Bahnstrecke, die heute so viel grauer sind als damals, gab es ein Haus, das von Omaha bis Denver wegen seiner Gastlichkeit und eines gewissen Charmes seiner Atmosphäre wohlbekannt war. Wohlbekannt vor allem der Eisenbahn-Aristokratie jener Zeit: Männern, die mit der Bahn selbst zu tun hatten oder mit einer der "Landgesellschaften", ihren Nebenprodukten. Damals genügte es, wenn von einem Mann gesagt wurde, er "habe mit der Bahn zu tun". Da waren die Direktoren, die Generalbevollmächtigten, Vizepräsidenten, Betriebsleiter, deren Namen wir alle kannten; und ihre jüngeren Brüder oder Neffen waren Rechnungsrevisoren, Frachtagenten, Abteilungsgehilfen. Alle, die mit der Bahn "zu tun hatten", sogar die großen Vieh- und Getreidespediteure, hatten Jahreskarten; sie und ihre Familien waren sehr oft auf der Strecke unterwegs. Damals gab es zwei verschiedene Gesellschaftsschichten in den Präriestaaten: die Siedler und Handwerker, die dort waren, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und die Bankiers und Gentlemen-Viehzüchter, die von der Ostküste kamen, um Geld zu investieren und "unseren großen Westen zu entwickeln", wie sie uns zu sagen pflegten. Wenn die Burlington-Leute in weniger dringlichen Geschäften hin- und herreisten, stiegen sie gern aus dem Expreßzug, um die Nacht in einem angenehmen Haus zu verbringen, wo ihre Bedeutung taktvoll anerkannt wurde; und kein Haus war angenehmer als das von Captain Daniel Forrester in Sweet Water. Captain Forrester war selbst ein Eisenbahnmann, ein Unternehmer, der Hunderte von Meilen für die Burlington gebaut hatte - durch Beifußgestrüpp und Weideland und weiter in die Black Hills hinauf. Das Haus Forrester, wie jeder es nannte, war keineswegs bemerkenswert; die Menschen, die dort lebten, ließen es viel größer und vornehmer erscheinen, als es war. Das Haus stand auf einem flachen runden Hügel fast eine Meile östlich der Stadt; ein weißer Bau mit einem Seitenflügel und steil abfallendem Dach wegen des Schnees. Eine offene Veranda umgab es, die nach modernen Vorstellungen von Komfort zu eng war. Sie stützte sich auf die überladenen, zerbrechlichen Säulen jener Epoche, in der jedes ehrliche Stück Holz auf der Drehbank zu einer Scheußlichkeit mißhandelt wurde. Ohne seine Kletterpflanzen und seine Büsche wäre das Haus wohl ziemlich häßlich gewesen. Es stand dicht am Rand eines schönen Pappelwäldchens, das es schützend umfing und sich dahinter den ganzen Hang hinabzog. Auf der Anhöhe vor dem aufragenden Gehölz war es das erste, was man erblickte, wenn man mit der Bahn in Sweet Water einfuhr, und das letzte, was man sah, wenn man abfuhr. Um sich Captain Forresters Besitz zu nähern, mußte man zunächst einen breiten sandigen Bach überqueren, der am Ostrand der Stadt entlangfloß. Hatte man den Steg oder die Furt hinter sich gebracht, betrat man den pappelgesäumten Privatweg des Captains, zu dessen beiden Seiten sich weite Wiesen erstreckten. Unmittelbar am Fuße des Hügels, auf dem das Haus stand, überquerte man auf der soliden Holzbrücke einen zweiten Bach. Dieser Wasserlauf zog schlichte Schlaufen und Windungen durch die weiten Wiesen, die halb Weideland, halb Sumpfgebiet waren. Jeder andere, nur Captain Forrester nicht, hätte das tiefere Land trockengelegt und daraus ertragreiche Felder gemacht. Aber er hatte vor langer Zeit diesen Ort ausgewählt, weil er ihn schön fand, und es gefiel ihm nun einmal, wie sich der Bach durch seine Wiesen wand, mit Minze und Schachtelhalm und flimmernden Weiden an den Ufern. Für jene Zeiten war er vermögend, und er hatte keine Kinder. Er konnte sich seine Launen erlauben. Wenn der Captain Freunde aus Omaha oder Denver in seinem Zweispänner von der Bahnstation abholte, freute es ihn, wie diese Herren sein prachtvolles Vieh bewunderten, das zu beiden Seiten des Weges auf seinen Weiden graste. Und wenn sie die Hügelkuppe erreichten, freute es ihn zu sehen, wie Männer, die älter waren als er, g Leseprobe