Beschreibung
Autobiographie eines Glasers aus dem Paris des 18. Jahrhunderts.
Produktsicherheitsverordnung
Hersteller:
Verlag A. Morstadt Inh. Michael Foshag
Dr. Silja Foshag
lektorat@morstadt-verlag.de
Kinzigstr. 25
DE 77694 Kehl
Autorenportrait
Günter Berger, Dr. phil., war von 1986 bis 2012 Professor für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Bayreuth. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zur französischen Literatur der Aufklärung, darunter zur Enzyklopädie, zur populären Kultur im Frankreich der Frühen Neuzeit, vor allem zur Bibliothèque Bleue, die mittelalterliche Erzählungen für ein breites Publikum bereitstellte, und zum Memoirenroman dieser Epoche, in dem sich Fakten und Fiktionen munter mischten.
Leseprobe
Leseprobe: Tagebuch meines Lebens, S. 210-224 Eines Abends, als ich vom Abendessen bei meiner Witwe zurückkam und mich von meinem Schwager getrennt hatte, sehe ich, als ich an der Rue Montmartre vorbeikomme, einen Mann, der aus einem Hauseingang herauskommt, ein Mädchen am Arm gepackt hält und es unter Drohungen vor die Tür setzt. Es war spät. Ich gehe näher und sehe ein Mädchen in Tränen aufgelöst. Ich tröste sie und sage zu ihr, dass sie, wenn sie es wünsche, in aller Sicherheit mit mir kommen könne. Sie zögert. Endlich entschließt sie sich, und ich nehme mein Hühnchen mit und vergrößere noch einmal meine Familie. Die Kleine verdiente wohl meine Aufmerksamkeiten. Sie war reizend. Ihr Vater war ihren Behauptungen nach ganz vom Typ des meinen. Wenn er getrunken hatte, schickte er sie fort zu den Verwandten ihrer Mutter, die Waise war. Nachdem ich sie gut hatte frühstücken lassen, ging sie zu ihren Verwandten und gab mir das feste Versprechen, mich besuchen zu kommen -, was sie hielt. Sie war die Sanftmut selbst. Das zeigte mir, wie viel Schuld Väter durch ihre Trunksucht am Verderben ihrer Kinder haben. Als ich meine Jugendstreiche niederschrieb, habe ich sie nicht ohne Prahlerei, ohne Moralisieren und ohne Reflexion niedergeschrieben. Als ich eines Morgens auf den Boulevards spazieren ging, bemerke ich zufällig die junge Pinard, die sich mir sehr freundlich zeigt und sagt, dass sie sich erkundigt hat, wo ich sein könne, aber dass all ihre Nachforschungen erfolglos gewesen seien. Sie war prächtig gekleidet. Sie schlägt mir vor, in eine Kneipe zu gehen. Wir gehen zu Erklärungen über: Ihr Vater hat den Laden verkauft. Eines Tages, als er betrunken war, hat er sich den Arm gebrochen, an dem ich ihm das Handgelenk gebrochen hatte. Es ist zu einer Entzündung gekommen; er war ins Hôtel-Dieu gegangen, und man hatte ihn ihm abgenommen. Aber sie wollte mir nicht den gemeinen Beruf sagen, den er ausübte. Ihre Mutter sei mit einem guten Bauern auf dem Land zusammen; ihre Schwester sei mit einem gewissen Jouanin, einem Uhrmacher, nach Lyon fortgegangen. Was sie angehe, so sei sie dabei, mit ihrem Zuhälter, der gewaltig reich sei, ins Ausland zu wechseln. Ich wollte ihr vorher noch einmal zu erkennen geben, worin ich mich auskannte, bevor ich ihr Lebewohl sagte, indem ich sie auf mein Zimmer mitnahm, was sie huldvoll annahm. Und so sagte ich ihr Lebewohl wie auch ihrer liebenswürdigen, ausgezeichneten Familie. Ich ging Monsieur Murat, den Kommandanten der Feuerwehr wieder besuchen, von dem ich gut empfangen wurde und der mir sagte, dass er eine Reform machen und die Truppen der Feuerwehr in ihrem Ansehen stärken würde und dass jeder Feuerwehrmann über seiner Tür ein Schild mit der Inschrift FEUERWACHE DES KÖNIGS in Großbuchstaben haben müsse. Ich erhielt meinen Posten zurück, mit denselben Zuwendungen wie zuvor. Mein Vater erhielt einen Einladungsbrief - wie auch einen für mich - eines meiner Cousins mütterlicherseits, der seine erste Messe in Notre-Dame in der Chapelle de la Vierge hielt, wo er Chorknabe gewesen war. Und er war zum Schlosskaplan des Herrn Bischof von Lombez ernannt worden. Da wir oft zusammen Streiche gespielt hatten, erkannte ich sofort, dass es bei ihm mehr um Ehrgeiz als um religiöse Überzeugung ging - nach all den Albernheiten, über die wir uns zusammen amüsiert hatten, und dass er diesen ganzen Mysterien keinerlei Glauben schenkte und sie als reines Menschenwerk betrachtete, alles aus Unwissenheit erfunden und durch Lüge als Glaubensartikel gestärkt. Da ich mir in dieser Schrift keine Reflexionen gestattet habe, will ich keine weiter machen. Alle meine Verwandten schauten ihm beim Lesen der Messe mit einer Andacht zu, die bis zur Anbetung ging. Ich aber, ich dachte ganz anderes. Ich war nie ein Glaubensfanatiker, ich habe niemals geglaubt und werde niemals glauben, dass irgendein Wesen auf der Erde imstande ist, nach seinem Willen einen Gott auf seinen Altar hinabsteigen zu lassen und ihn hinunterzuschlucken; genauso wie ihn einem zu geben, dessen Schlund kräftig genug ist, um ihren Gott zu verdauen. Das übersteigt das Vorstellungsvermögen eines jeden vernünftigen Menschen. Von daher haben sie recht, dauernd diese Worte im Munde zu führen: Selig die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich. Ich ging zur Begrüßung in die Sakristei. Er lächelte mich an und hielt mich an der Hand fest, damit ich an der Mahlzeit teilnähme, wo ich mich unter Pfaffen befand, die mehr als wir zu Scherzen aufgelegt waren. Ich wusste, dass er diesen Besuch erwidern würde. Er sagte zu mir: Cousin, ich wusste nach deinem Umzug vom Kloster Saint-Germain nicht, wo du wohnst; deswegen habe ich die Einladung an deinen Vater adressiert, und wir werden uns wiedersehen, was auch geschah. Er kam den folgenden Sonntag im Wagen des Bischofs von Lombez. Ich hatte zu meiner jungen Schwester gesagt: Bereite eine Abendmahlzeit vor! Und wir trafen uns als wahre Freunde wieder. Er ließ mich wissen, dass er diesen Beruf eher aus Ehrgeiz denn aus religiöser Überzeugung und zu Gunsten eines ruhigen Lebens ergriffen habe; dass er seine Genüsse gehabt habe - und dass er, sagte ich zu ihm, die Dummheiten der anderen hören werde. Er sagte zu mir: Cousin, das ist der weiseste Entschluss, den ich gefasst habe, es ist der Beruf, in dem der Mensch ohne Mühen und Sorgen leben kann. Ich werde unverzüglich nach Lombez aufbrechen. Ich hoffe, du wirst es so machen wie ich, wenn auch auf andere Weise, wenn du dich etablierst. Ich habe dir keine Ratschläge zu geben. Erlaube mir die, welche du mir manchmal gegeben hast; trotz unserer verrückten Streiche haben wir niemals die Grenzen der Ehre überschritten. Ich wünsche dir gutes Wohlergehen. Das ist das, was du verdienst. Was deinen Glauben betrifft, so geht das nur dich etwas an. Du hast dich immer über die Vorurteile erhoben. Du betest zu Gott. Du tust deinem Nächsten nichts Böses, du bist ein Menschenfreund. Das ist es, was wirklich zählt. Wir sagten uns liebevoll und gerührt Lebewohl - es war das letzte, denn er starb in Lombez zehn Monate darauf. Ich hatte mir gesagt, dass ich mir keine Reflexion mehr gestatten würde, ich kann nicht umhin: Ein Mann wie mein Cousin, ohne Mühen, alles nach Wunsch, ohne jede Arbeit, gutes Trinken und Essen, eine gute Tafel, dem alles nach Wunsch geht, der von den Frömmlerinnen geliebt wird, der Geschenke bekommt, geliebt und geschätzt von seinem Bischof: Dieser Mann stirbt in der Blüte seiner Jahre in dem Moment, wo er eine glänzende Karriere machen kann, während andere in seinem Alter sich gezwungen sehen, alle Mühen des Lebens auf sich zu nehmen, um zu existieren und trotz der Beschwernisse und Kümmernisse, die mit ihrer Existenz verbunden sind, zu leben. Ich suchte ohne Ende meine Bekanntschaften, von denen viele wegen meiner Abwesenheit fortgegangen waren. Meine kleine Blumenverkäuferin hatte einen Sattlergesellen geheiratet. Mir half das schön aus der Klemme. Die Familie Pinard war von der Bildfläche verschwunden. Meine Wäscherin ließ mich in Ruhe. Meine Kindererzieherin besuchte mich gelegentlich bei einer ihrer Tanten - aber mit Umsicht. Meine kleine Brünette aus der Rue Montmartre störte mich gar nicht. Aurore war immer noch in Pension. Eine Kammerfrau namens Omphale, die bei der Marquise de Lansedine wohnte, war die, welche am meisten hinter mir her war. Und die hübsche Tochter von Élophe, die sich erkundigte, als ich so tat, als wäre ich fort, und die mich mit Hilfe ihres Bruders entdeckte; und sie traf mich bei Gaudon oder Nicolet, wohin wir immer zu einer kleinen Mahlzeit gingen; denn darin war sie ihrem Vater ähnlich: Sie war ein Leckermaul. Meine übrigen Bekanntschaften zweiten Ranges ließen mich völlig in Ruhe, da sie mich immer noch auf dem Land glaubten. Einzig zu meiner Witwe ging ich jeden Abend zum Essen, und sie gestattete mir überhaupt nicht, bei ihr zu übernachten, wegen ihrer Leute, die ähnlich wie sie annahmen, dass ich mit ihr in ernsthafter Absicht verkehrte. Was me...