Beschreibung
"ich, weiblich, 43, habe niemand getötet", notiert sich die Erzählerin zu Beginn auf einem ihrer Blätter. Zu Anschlägen jedoch ist es gekommen, erst zu verbalen Attacken, dann aber auch mit Waffen. Was uns vorliegt, ist ihr Versuch, sich selbst Rechenschaft über das Vorgefallene zu geben. Sichtbar wird eine Figur mit einem empathischen Bezug zur Welt, die gut sieht, gut hört, sich vieles merkt und die bereit ist zu agieren - aber erst, als es für sie keine andere Möglichkeit mehr gibt. Denn in einer Umwelt, deren Handlungsweisen radikalisiert eindimensional erscheinen, lassen sich ihre Wahrnehmungs-, Empfindungsfähigkeit und, vielleicht, naive Offenheit nicht entfalten, sondern münden ebenfalls in eine einzige Gegenbewegung, die Bewegungsfolge ihrer Anschläge. Durch ihre Texte bricht die Erzählerin diese isolierende Fokussierung nun allerdings auf. Erinnerungen und Beobachtungen, Gedichte und Randglossen (Einsprüche, Kommentare und Wegweisungen) treten verstreut über die Blätter zueinander in Beziehung und laden zum öffnenden Gespräch. Die erste Prosa der Lyrikerin Anja Utler entwirft Blätter, unter denen man sich verbergen, an die man sich halten kann, die Verwundbarkeit bloßlegen.
Autorenportrait
Anja Utler, geb. 1973 in Schwandorf, lebt in Regensburg und Wien. Auszeichnungen (u. a.): Leonce-und-Lena-Preis für Lyrik 2003, Karl-Sczuka-Förderpreis 2008, Heimrad-Bäcker-Förderpreis 2010. In der Edition Korrespondenzen erschienen "münden - entzüngeln" (2004), "brinnen" (2006) und eine gleichnamige CD (2006) sowie "jana, vermacht" (2009).
Leseprobe
Denn es ist eigentlich einfach gesagt: ich, weiblich, 43, habe niemand getötet. Ich habe eine Waffe genommen und mit ihr die Leute (einige, weiblich, jung) für wenige Stunden heraus; aus dem leisen Pochen der Schritte, ihrer kaum ab gefädelten Zeit. Ich wollte sie alle; aber eine gewiss habe ich damit zur Welt gebracht. Auf andere, dünnere Sohlen gesteckt, und vergessen nichts. Unsere kurze Fahrt in den Sand, ins Geröll, an die Flanke des auf gefressenen Bergs, war nur: sie heraus gebeten und ein Schuss pro Reifen, nach ein paar Sätzen hinein gewispert ins plötzlich gehäutete Ohr: "Du bist Beifang, Herzchen, du meine Schöne" -. Ihren Arm an die Brust, Kopf an Metall gedrückt, abgedrückt. Klick; auch sie hört es: leer. Und bis sie zurück fanden aus ihrer Angst in die Glieder - "Jetzt kannst du gehen, frei" - war ich schon ein-, war eine der dunklen Schlangen, der feuchten Arme aus Sand, ihnen leichten Schrittes zu folgen für ein sicheres Stolpern nach Haus. Dass sie ankommen, dieses eine für alle Mal.