Beschreibung
'Dieses Buch ist so bemerkenswert, weil ihm das beinahe Unmögliche gelingt: den Schmerz der Deutschen anzuerkennen, ohne die unvorstellbaren Leiden und Schmerzen, die Deutschland anderen zugefügt hat, je aus dem Blick zu verlieren. Leidenschaftlich und großherzig lässt Frie die Leser an seinen psychischen Prozessen teilhaben. In einem kontinuierlichen Prozess der Selbsterforschung und Selbstreflexion erforscht er die tiefsten Tiefen auf seiner Suche nach einer >gelebten historischen Wahrheit< in sich selbst, nach der Wahrheit seines geliebten Großvaters mütterlicherseits, eines Mitglieds der Nazi-Partei, und dessen Komplizenschaft bei den Verbrechen, die das Nazi-Regime verübte.' Dori Laub, MD, Clinical Professor of Psychiatry, Yale University School of Medicine, und Mitbegründer des Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies
Autorenportrait
Roger Frie, Historiker und Psychoanalytiker, Professor of Education an der Simon Fraser University, Affiliate Professor of Psychiatry an der University of British Columbia, Vancouver, Kanada, sowie Mitglied, Dozent und Supervisor am William Alanson White Institute of Psychiatry, Psychoanalysis and Psychology in New York. Frie hat neun Bücher veröffentlicht und zahlreiche Vorträge über menschliche Interaktion, Erinnerung und Verantwortung gehalten. Seine aktuelle Forschung ist den langen Schatten des historischen Traumas gewidmet und hängt eng mit seiner deutschen Familiengeschichte und seiner Erfahrung, in einem deutschen und einem jüdischen Kontext zu leben, zusammen. Sein Buch Not in My Family wurde 2017 mit dem Canadian Jewish Literary Award und 2018 mit dem Western Canada Jewish Book Award ausgezeichnet. Frie ist Herausgeber des Sammelbandes History Flows Through Us: Germany, the Holocaust and the Importance of Empathy, der führende Historiker des Holocaust und Psychoanalytiker miteinander ins Gespräch bringt.
Leseprobe
Ich erkannte sein Gesicht, doch dieses Bild von ihm hatte ich noch nie gesehen. Das Foto meines Großvaters lag auf einem Tisch inmitten zahlreicher Briefe. Ich war in Deutschland, um Verwandte zu besuchen, und sie nahmen dies zum Anlass, alte Dokumente zu sichten und auszusortieren, was der Aufbewahrung nicht wert war. Beim Anblick des Fotos erfasste mich augenblicklich ein Gefühl des Unbehagens. Mein Großvater trug Uniform. Sein Gesicht rief mir die Freundlichkeit in Erinnerung, die er mir als Kind entgegengebracht hatte, doch seine militärische Haltung wirkte befremdlich. Das Bild verwirrte und verunsicherte mich. War meinem Großvater unbehaglich zumute gewesen? Oder war es die Begegnung mit einem Stück Familiengeschichte, über das nie jemand mit mir gesprochen hatte, die eine solche Beklemmung in mir hervorrief? Ich kannte ein Foto, das meinen Großvater in der Uniform der Deutschen Luftwaffe zeigte, aber ganz anders war. Er wirkte jünger, stolz und, wie ich fand, insgesamt beeindruckender. Was bedeutet es, in einem Netz der Geschichte gefangen und Teil einer traumatischen Vergangenheit zu sein, über die wir keinerlei Kontrolle haben? Wir werden in die Geschichte und in die Kultur hineingeboren und sind durch unsere Familie mit diesen umfassenderen Erfahrungsdimensionen verbunden. Unsere Angehörigen erzählen uns Geschichten und berichten von Ereignissen, die uns helfen, die Vergangenheit zu verstehen.