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'äußerst lesenswert und ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung der Migrationsgeschichte Österreichs.' - Mary Kreutzer, Kurdische Studien 7
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Leseprobe
Einführung: Aspekte der österreichischen Migrationsgeschichte (von Senol Grasl-Akkilic) Die Frage, wie ein Land mit seiner Geschichte oder mit einzelnen Phasen und Ereignissen seiner Geschichte umgeht, sagt sehr viel über die Befindlichkeit dieses Landes aus. (Fischer 2018: 7) Europa steht seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nach 74 Jahren wieder vor einer großen Gefahr, die von wachsendem Nationalismus ausgeht. Er gefährdet sämtliche Errungenschaften der Nachkriegszeit, die durch den Aufbau des Friedensprojekts EU nach intensiven Verhandlungen erzielt worden sind. Er bedient Ressentiments und setzt sowohl auf einen kulturellen und verstärkt wieder auf den biologischen Rassismus. Viele rechtsextreme Parteien, die eine nationalistische Politik verfolgen, verschleiern soziale Konflikte, indem sie Flucht und Migration für viele Missstände verantwortlich machen. Anstatt sich mit den Ursachen und der historischen Entwicklung von Migration und Flucht auseinanderzusetzen, missbrauchen sie die Themen, um Ängste in der Bevölkerung zu schüren. Dem entgegenzutreten, ist sehr wichtig und verlangt eine tiefgehende Analyse der historischen Entwicklungen von Migrationsbewegungen. Zudem sei darauf hingewiesen, dass es sich beim Phänomen Migration um eine sogenannte anthropologische Konstante handelt, d.h. seitdem es Menschen gibt, begeben sich diese auf die Suche nach besseren Lebensbedingungen. Zu und Abwanderung prägte immer schon die österreichische Geschichte. Österreich war und ist ökonomisch, politisch, sozial und kulturell durch Zu und Abwanderung gekennzeichnet. Zuwander/innen haben sich durch ihr Schaffen in vielerlei Hinsicht in das gesellschaftliche Leben eingeschrieben. Kein Berufsfeld kommt heute ohne Migration aus, mehr noch: Migration schafft neue Berufsfelder. Das Thema Migration ist ein fixer Bestandteil gesellschaftlicher Debatten und wissenschaftlicher Auseinandersetzung geworden, die nach Verstetigung in eigenen Universitätslehrgängen, Forschungseinrichtungen etc. suchen. Flucht und Migration transformieren nicht nur die Gesellschaft, sondern auch Nationalstaaten und Staatengemeinschaften wie die Europäische Union. Als transnationales Phänomen erfordern Flucht und Migrationsbewegungen immer mehr internationale Zusammenarbeit und Abkommen. Migration ist, wie Sabine Strasser und Julia Schranz in ihren Beiträgen erläutern, ein globales Phänomen, das den Nationalstaat herausfordert, neue transnationale Lebensräume und Verbindungen schafft und somit die Wissenschaft und Politik ständig vor neue Fragen stellt. Allein durch seine mediale Existenz prägt sich das Thema Migration in die Köpfe der Menschen ein und verursacht Veränderungen, die tiefgreifende Folgen für unser Zusammenleben haben. Der gesellschaftspolitische Umgang mit dem Thema Migration verlief in Österreich über weite Strecken hindurch nicht friktionsfrei. Er war stets gegenüber Minderheiten exkludierend und zugleich von der deutschen Sprachgemeinschaft dominiert. Die gesellschaftliche Hegemonie negierte und negiert die soziale und kulturelle Pluralität Österreichs in mehreren Bereichen des Lebens und anerkennt unzureichend den Beitrag der Migrant/innen, den sie für das Land geleistet haben. Die Geschichte der Zugewanderten auszublenden, bedeutet, sie nicht als Subjekte wahrzunehmen und erzeugt auf diese Weise neues Konfliktpotenzial. In diesem Buch beschäftigen wir uns mit den Ursachen und Folgen der Migration nach Österreich und analysieren die Zusammenhänge und Parallelen zwischen der Migrations-, Flüchtlings- und Minderheitenpolitik des Landes von der Habsburgermonarchie bis in die Gegenwart. Darüber hinaus versuchen wir die Gründe für die Unterscheidung zwischen alten und neuen Österreicher/innen, zwischen anerkannten und nicht anerkannten Minderheiten, zwischen willkommenen und unwillkommenen Zugewanderten bzw. in oder außerhalb Österreichs Geborenen nachzugehen und hinterfragen die Machtverhältnisse, die sich daraus ergeben. Dabei richten wir den Blick darauf, dass die Zugewanderten ganz unterschiedliche persönliche Geschichten mitbringen. Der Migrationsprozess transformiert jedoch nicht nur die Menschen, die migrieren, sondern auch die ansässige Bevölkerung. Leider fand diese Transformation Österreichs zu einer Migrationsgesellschaft im hegemonialen Narrativ des Landes keinen entsprechenden Platz. Selbst bei den offiziellen Feierlichkeiten zu 100 Jahren Republik kam es den politisch Verantwortlichen der amtierenden Bundesregierung nicht in den Sinn, den Beitrag der Migrant/innen und ihre dazugehörigen Geschichten zu erwähnen. Auf diese Weise zeichnet die hegemoniale Geschichtsschreibung ein Geschichtsbild, das nicht den realen gesellschaftlichen Verhältnissen entspricht. Mehr noch: sie untergräbt die Bewusstseinsbildung in der Bevölkerung, in einer Migrationsgesellschaft zu leben. Schaffen wir es nicht, das hegemoniale Geschichtsverständnis zu dekonstruieren, um es zu einem kollektiven Gedächtnis zu verweben, setzen wir die Fehler der Vergangenheit fort und beeinträchtigen somit das gedeihliche Zusammenleben in Österreich.