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Brief an Deutschland

Erschienen am 29.11.2010
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783424350418
Sprache: Deutsch
Umfang: 160 S.
Format (T/L/B): 1.8 x 22 x 14.2 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Franz Josef Wagner ist der bekannteste Unbekannte der deutschen Medienszene. Er war Kriegsberichterstatter und später Chefreporter der BILD, Ghostwriter von Franz Beckenbauer und Boris Becker, Chefredakteur der BUNTE und der B.Z. Seit 2001 schreibt er die beste, meistgelesene, streitbarste, abgründigste und schönste Kolumne im ganzen Land: Post von Wagner auf Seite 2 der BILD erreicht täglich ein 12-Millionen-Publikum.

Wagners neues Buch ist eine Hommage an Deutschland, ein Lebensbericht gespickt mit Zeitgeschichte, Portraits und Geistesblitzen, abgefasst in einem Sound ohnegleichen - eben FJW. Das letzte Genie des Boulevards erzählt sein Leben gespiegelt in siebzig Jahren Zeitgeschichte. Skandale und Enthüllungen nicht ausgeschlossen und obendrein ein wichtiger Beitrag zur aktuellen Sarrazin-Debatte.


Das Meisterwerk des BILD-Kolumnisten
Franz Josef Wagner hautnah

Leseprobe

Normalerweise brauche ich f?r die Kolumne ?Post von Wagner" ein, zwei Stunden. Es ist f?r mich finanziell und geistig absolut t?dlich, einen Monat lang ?ber einen ersten Satz nachzudenken. Den ersten Satz f?r diesen Brief. Es ist jetzt 18 Uhr 27, im Haus gegen?ber kehren Ehem?er/-frauen heim, ich habe sie schon morgens gesehen, als sie das Haus verlie?n und ich ?ber dem ersten Satz sa? Gegen?ber gehen jetzt die Lichter aus. Es ist 0 Uhr 21. Niemand wird die Schlafenden wecken, keine Gestapo, keine Stasi. Ist das ein guter erster Satz? Deutsche schlafen sicher. Nehmen wir an: Eine Naturkatastrophe h?e Deutschland vernichtet und ich w? der letzte Deutsche. Und die gro? Stimme fragt mich: W arum willst du als Deutscher ?berleben? Was w?rde ich in meiner Not antworten? Wegen Luther, Heine, Beethoven, Goethe, Humboldt, von Stauffenberg, wegen der Heldenstadt Leipzig? Ist das ein guter Anfang? Ich denke, der beste Satz ist die Wahrheit. In meinem Pass steht unter Staatsangeh?rigkeit: deutsch. Gr??: 190 cm. Augenfarbe: blaugrau. Geburtsort: Olm?tz. Olm?tz hat mit Deutschland genauso viel zu tun wie Paris, Texas mit Paris, Frankreich. Olm?tz, tschechisch Olomouc, ist eine Stadt in M?en. Von ihrem Entbindungsbett hatte meine Mutter einen sch?nen Blick auf den Wenzelsdom. Mein Vater war bei meiner Geburt nicht dabei, aber sie bildete sich ein, ihn zu h?ren. Zweimal t?ich starteten die Flugzeuge des Wetterdienstes der deutschen Wehrmacht vom Milit?lughafen Olm?tz, um den Heeren im Osten das Wetter vorherzusagen. Sehr fr?h am Morgen und gegen Mittag. Ich bin mittags geboren. Ich habe meinen Vater, den nach Olm?tz abkommandierten Wetterdienstassistenten, erst kennengelernt, als ich schon Rad fahren konnte. Ich bin ein Kind der amerikanischen Besatzungszone. Meine Mutter floh vor der heranr?ckenden Roten Armee, meinen eineinhalb Jahre ?eren Bruder mit einem Strick an ihrem Handgelenk, mich an der Brust. Ihr Problem war als Sudetendeutsche, wohin sie fliehen sollte. Zur Ostsee, zur Nordsee, zu den Alpen? Gab es Deutschland ?berhaupt? Jeder Mensch hat einen Schuhkarton, einen Flohmarkt an Fotos. Ich habe zwei Fotos von meiner Mutter, sie sind br?lich verf?t. Wenn Fotos sterben, werden sie braun. Ich besitze das Hochzeitsfoto meiner Eltern. Wie ernst man damals in die Kamera sah. Ich habe das Foto, wie mich meine Mutter in die Luft wirft. Sie ist eine junge, gl?ckliche Frau. Sie ist zweiunddrei?g auf dem Foto. Man stelle sich heute eine Zweiunddrei?gj?ige vor, die ohne Bahncard, Mastercard, g?ltiges Geld, Handy mit zwei Kindern durch die Welt irrt. Wir schliefen unter B?en, wir schliefen in Scheunen. Mit der ?Berliner Erkl?ng" vom 5. Juni 1945 hatten die Alliierten die oberste Regierungsgewalt ?bernommen. Einen deutschen Staat gab es nicht mehr. Meine Mutter bettelte, manch einer gab was. Eine amerikanische Patrouille griff uns auf und brachte uns in das Schafhoflager bei N?rnberg. An das Lager erinnere ich mich. K?chen sagte meine Mutter zu den Ratten. ?Es sind K?chen." Gegen die Bilder von Bergen-Belsen, Auschwitz, der Leichenberge, die ich als Sch?ler im Geschichtsunterricht sehen sollte, verbieten sich die Bilder meiner Erinnerung an unser Lager. Doch ich werde sie nicht los, auch als Erwachsener nicht. Sie sterben nicht, sie sind wie in einem Winterschlaf und wachen auf. Ein zwei, dreij?iges Kind sieht Dinge und sieht sie nicht. Augen vergessen. Erst mit f?nf, sechs Jahren ?ffnet sich die Festplatte f?r einzelne Fotos. Ein umgekipptes Auto mit M?ern, die vorher noch sprachen und jetzt nicht mehr. Das muss vor dem Lager in meinen Kopf geraten sein. War es das Wehrmachtsauto eines deutschen Soldatensenders, das uns ein St?ck mitgenommen hatte und aus der Luft beschossen worden war? Waren die M?er stumm, weil sie tot waren? Ein anderes Bild zeigt, wie meine Mutter nach mir schreit, wie ich sie nie mehr habe schreien h?ren. Sie hatte mich im Fl?chtlingstreck verloren,

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