Beschreibung
Irvin D. Yalom über eine tiefe Freundschaft und das Ende eines langen Schweigens Irvin D. Yalom erzählt in 'Ein menschliches Herz' die Geschichte seines guten Freundes Bob Berger, der seit seiner Kindheit während des Holocaust in Ungarn zwei Leben führte: eines tagsüber als engagierter und exzellenter Herzchirurg - und ein nächtliches, in dem Bruchstücke entsetzlicher Erinnerungen durch seine Träume geisterten. Jahrzehntelang verdrängte Berger durch unermüdlichen Arbeitseifer seine schrecklichen Erlebnisse, bis sie sich während einer nicht ungefährlichen medizinwissenschaftlichen Reise nach Venezuela wieder Bahn brachen.
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Autorenportrait
Irvin D. Yalom wurde 1931 als Sohn russischer Einwanderer in Washington, D.C. geboren. Er gilt als einer der einflussreichsten Psychoanalytiker in den USA und ist vielfach ausgezeichnet. Seine Fachbücher gelten als Klassiker. Seine Romane wurden international zu Bestsellern und zeigen, dass die Psychoanalyse Stoff für die schönsten und aufregendsten Geschichten bietet, wenn man sie nur zu erzählen weiß.
Leseprobe
Als das Abschiedsbankett zum fünfzigjährigen Approbationsjubiläum meines Studienjahrgangs allmählich zu Ende ging, gab mir Bob Berger, mein alter Freund, mein einzig verbliebener Freund aus den Zeiten meines Medizinstudiums, zu verstehen, dass er unbedingt mit mir reden wolle. Obwohl wir unterschiedliche berufliche Wege eingeschlagen hatten, er zur Herzchirurgie und ich zur Gesprächstherapie für gebrochene Herzen, hatten wir eine enge Beziehung aufgebaut, die, wie wir beide wussten, ein Leben lang halten würde. Als Bob mich nun am Arm nahm und zur Seite zog, wusste ich, dass etwas im Argen lag. Bob berührte mich so gut wie nie. Uns Seelenärzten fällt so etwas auf. Er beugte sich zu mir und krächzte mir ins Ohr: "Etwas Schwerwiegendes passiert gerade. die Vergangenheit kocht hoch. meine beiden Leben, Nacht und Tag, fließen ineinander. Ich muss mit dir reden." Ich verstand. Seit seiner Kindheit, die er während des Holocaust in Ungarn verbracht hatte, führte Bob zwei Leben: eines tagsüber als umgänglicher, engagierter und unermüdlicher Herzchirurg und ein nächtliches, in dem Bruchstücke entsetzlicher Erinnerungen durch seine Träume geisterten. Ich wusste alles über sein Leben, das er tagsüber führte, aber in unserer fünfzig Jahre dauernden Freundschaft hatte er nie etwas von seinem nächtlichen Leben preisgegeben. Auch hatte er mich niemals ausdrücklich um Hilfe gebeten: Bob war selbstgenügsam, mysteriös, geheimnisvoll. Das hier war ein anderer Bob, der mir ins Ohr flüsterte. Ich nickte, ermutigte ihn. Ich war besorgt. Und ich war neugierig. Dass wir während unseres Medizinstudiums Freunde geworden waren, war nicht selbstverständlich gewesen. Berger war ein "B" und Yalom ein "Y", und schon allein das stand einem näheren Kennenlernen entgegen. Normalerweise suchen sich Medizinstudenten ihre Freunde im Bereich ihrer eigenen Anfangsbuchstaben heraus: Leichensektionen, Laborpartner und Klinikdienste werden nach dem Alphabet vergeben, und so hing ich die meiste Zeit mit der Gruppe S bis Z herum - Schelling, Siderius, Werner, Wong und Zuckerman. Vielleicht lag es an Bobs ungewöhnlicher Erscheinung. Von Anfang an faszinierten mich seine lebhaften, blauen Augen. Noch nie hatte ich einen so tragischen, entrückten Blick gesehen, einen Blick, der faszinierte, der mit meinem Blick spielte, mich aber niemals direkt traf. Sein Gesicht war ungewöhnlich, geradezu kubistisch, hatte scharfe Kanten, wo man hinsah: spitze Nase, spitzes Kinn und sogar spitze Ohren. Seine von Rasurnarben gezeichnete Haut war fahl. Keine Sonne, dachte ich. Keine Karotten. Kein Sport. Seine Kleidung war verknittert und von einem undefinierbaren Graubraun (noch nie habe ich ihn mit etwas Farbigem gesehen). Und trotzdem fühlte ich mich von ihm angezogen. In späteren Jahren sollte ich Frauen sagen hören, dass er unwiderstehlich unattraktiv sei. Unwiderstehlich ist möglicherweise ein wenig stark, vielleicht trifft verführerisch es besser. Ja, ich war von ihm fasziniert: In meiner provinziellen Highschool in Washington D. C. und an der Universität hatte ich nie jemanden kennengelernt, der Bob auch nur im Entferntesten ähnlich gewesen wäre. Unser erstes Zusammentreffen? Daran erinnere ich mich gut. Ich saß in der Bibliothek der medizinischen Fakultät, in der er ganze Abende mit Recherchearbeiten für Professor Robbins' Lehrbuch der Pathologie zubrachte (ein Text, der eine leuchtende Zukunft vor sich hatte, ein Text, der Generationen von Medizinern in der ganzen Welt als Lehrmaterial diente und noch immer dient). Eines Abends kam er in der Bibliothek zu mir herüber und eröffnete mir, dass ich für das Neurologie-Examen am folgenden Tag nun genug studiert hätte. "Hast du Lust, Geld zu verdienen?", fragte er. "Robbins hat mir viel zu viel Arbeit aufgehalst, und ich könnte ein bisschen Hilfe gebrauchen." Auf das Angebot sprang ich sofort an. Abgesehen von einem kleinen Taschengeld, das ich mir mit Blut- und Spermaspenden verdiente - bei Medizinstudenten die klassische Q