Beschreibung
Erst im Herbst 1988 gelingt der gebürtigen Königsbergerin die Wiederbegegnung mit ihrer Vaterstadt, der bis dahin für Ausländer verbotenen Stadt.Viele Leser hatten sich nach dem Report Suche nach Karalautschi (1984) mit ihren Lebensberichten, Dokumenten und Fotos an die Autorin gewandt. Nun folgt sie einer Einladung des Kaliningrader Kulturfonds, der sich die Aufgabe gestellt hat, die ganze Geschichte der 700-jährigen Stadt wieder lebendig zu machen. Die Autorin überbringt Zeugnisse der gebürtigen Königsberger Käthe Kollwitz und E. T. A. Hoffmann, sie nimmt an Feierlichkeiten zu Ehren Immanuel Kants teil, und sie sucht die alten Straßen, Plätze und vertrauten Winkel ihrer Kindheit. Die verwandelte Stadt, die Kaliningrad heißt und doch noch Königsberg wie Karalautschi ist, wird zum Ort der Begegnung mit liebenswerten Menschen, deren Schicksal unter den Hitler- und Stalinregimes betroffen macht. Die Autorin erringt ein neues, lebendiges Verhältnis zu dieser Stadt der Geburt und entdeckt sie als gemeinsame Heimat.LESEPROBE:Jetzt zu der Geschichte meiner Mutter. Sie stammt aus Weißrussland, wurde am 9. 5. 1922 im Dorf Studenez im Gebiet Mogillew geboren. Als sie drei war, kam ihr Bruder Alexander zur Welt. Der ist aber als Säugling von drei Monaten verstorben. Mit sechs Jahren verblieb sie mit ihrer Mutter allein, ihr Vater, der 63 Jahre war, starb am 28. März. Er hieß Jude-Pine, jiddisch Jihude-Pinhus. Ein Doppelname. Ihm zu Ehren wurde ich Julia genannt: Jude - Julia. Bei euch bedeutet das Wort Jude die Nationalität, bei uns ist das ein Name. Mutti hatte eine schwere Kindheit: kein eigenes Haus, eine sehr kleine Pension (17 Rubel, 47 Kopeken). Sie arbeitete schon als Kind zusammen mit ihrer Mutter Ride im Wald. Dort hat man die Arbeit nicht schlecht bezahlt. Sie haben den Wald rein gemacht und Bäume gepflanzt. Im Jahre 1936 kam sie nach Moskau, um zu studieren. Ihr Onkel aber sagte, sie soll arbeiten gehen. So begann sie zu arbeiten und erlernte den Beruf Buchhalterin. Ein eigenes Haus hatten sie nicht und lebten hier und da bei den zahlreichen Verwandten, die selbst schlechte Wohnungen hatten. Im Jahre 1941 im Oktober, als die Faschisten nicht weit von Moskau waren, fuhr meine Mutter mit der Oma nach Osten und blieb dort bis 1943. Drei Jahre lebte sie dann wieder in Moskau. Und wieder ohne Zimmer, ohne Wohnung.
Autorenportrait
Am 14.7.1931 als Tochter eines Beamten im ehemaligen Königsberg/Preußen (heute Kaliningrad) geboren. Mädchenname: Elisabeth Appe.Vier Jahre konfessionelle Grundschule, drei Jahre Lyzeum. 1945 Flucht in die Altmark, Tangermünde. Oberschule ohne Abschluss.1948 bis 1949 Lehrerbildungsinstitut, ab November 1949 Lehrerin.Fernstudium für 1. und 2. Lehrerprüfung, Fernstudium an der Pädagogischen Hochschule Potsdam.Bis Ende August 1967 Lehrerin in Rangsdorf bei Berlin. Während dieser Zeit Gedichte geschrieben.Von 1967-1970 Studium am Institut für Literatur Johannes R. Becher in Leipzig. Zwei Jahre freischaffend, danach 14 Jahre Lehrtätigkeit im Fach Prosa (bei Fernstudenten) an diesem Institut, zuletzt als Dozentin.Von 1986-1990 für vier Jahre vom Hochschuldienst beurlaubt, in dieser Zeit freischaffend.Verwitwet, zwei Söhne.Wohnhaft in Leipzig, Berlin, Rangsdorf, jetzt wieder Berlin.Auszeichnungen:Förderpreis des Mitteldeutschen VerlagesKunstpreis der Stadt Leipzig.Liste der künstlerischen ArbeitenBibliografie (Romane):Jedes Leben hat auch seine Zeit, Mitteldeutscher Verlag Halle 1974Ausstellung einer Prinzessin, Mitteldeutscher Verlag Halle 1977Axel und der Maler Sim, Kinderbuchverlag Berlin 1979Die Beurteilung, Mitteldeutscher Verlag Halle 1981Suche nach Karalautschi/Report einer Kindheit, Mitteldeutscher Verlag Halle 1984Liane und ihr Baby, Kinderbuchverlag Berlin 1988Küchengespräche mit Frau L. (Portraits und Geschichten), Mitteldeutscher Verlag Halle 1989Drei Kastanien aus Königsberg, Mitteldeutscher Verlag Halle 1990Wer gibt uns unsere Träume zurück, Langen Müller Verlag, München 1995Im Mantel von Allerleirauh, BS Verlag Rostock 1995Gerda, das Nuschtchen. Drei Erzählungen zwischen Königsberg und Tangermünde, OsirisDruck, Leipzig 2007Elchritter. Fast ein Märchen aus vergangenen Tagen, OsirisDruck, Leipzig 2008
Leseprobe
Jetzt zu der Geschichte meiner Mutter. Sie stammt aus Weißrussland, wurde am 9. 5. 1922 im Dorf Studenez im Gebiet Mogillew geboren. Als sie drei war, kam ihr Bruder Alexander zur Welt. Der ist aber als Säugling von drei Monaten verstorben. Mit sechs Jahren verblieb sie mit ihrer Mutter allein, ihr Vater, der 63 Jahre war, starb am 28. März. Er hieß Jude-Pine, jiddisch Jihude-Pinhus. Ein Doppelname. Ihm zu Ehren wurde ich Julia genannt: Jude - Julia. Bei euch bedeutet das Wort Jude die Nationalität, bei uns ist das ein Name. Mutti hatte eine schwere Kindheit: kein eigenes Haus, eine sehr kleine Pension (17 Rubel, 47 Kopeken). Sie arbeitete schon als Kind zusammen mit ihrer Mutter Ride im Wald. Dort hat man die Arbeit nicht schlecht bezahlt. Sie haben den Wald rein gemacht und Bäume gepflanzt. Im Jahre 1936 kam sie nach Moskau, um zu studieren. Ihr Onkel aber sagte, sie soll arbeiten gehen. So begann sie zu arbeiten und erlernte den Beruf Buchhalterin. Ein eigenes Haus hatten sie nicht und lebten hier und da bei den zahlreichen Verwandten, die selbst schlechte Wohnungen hatten. Im Jahre 1941 im Oktober, als die Faschisten nicht weit von Moskau waren, fuhr meine Mutter mit der Oma nach Osten und blieb dort bis 1943. Drei Jahre lebte sie dann wieder in Moskau. Und wieder ohne Zimmer, ohne Wohnung. Ende Juli hat sie bei einer Fahrt an einem Baum auf einem Blatt Papier gelesen: Wir suchen Leute mit folgenden Berufen, die ins neue Gebiet Königsberg reisen wollen. Jeder bekommt eine Wohnung und Arbeit!Unter allen Berufen stand auch Muttis Beruf, und am 9. August kamen beide Frauen in Königsberg an. Zuerst möchte man Mutti nach Heiligenbeil schicken, dann nach Cranz. Sie haben in Cranz lange nach einer Wohnung gesucht! Die Forderungen waren folgende: Ohne Garten - man wird stehlen, näher zu den Russen. Zu dieser Zeit wusste sie schon, dass Omas Schwester mit ihrem Mann, Tochter, Schwiegersohn und drei Enkelkindern, die in Weißrussland waren, von den Faschisten ermordet worden sind.So fanden sie eine Zweieinhalb-Zimmerwohnung im zweiten Stock des Hauses neben der Tür im Wasserturm. Mutti arbeitete als Buchhalterin, Oma half den Russen beim Übersetzen. So haben sie ihr Brot verdient. Im Nebenhaus wohnten deutsche Familien, einfache, arbeitende Menschen, mit denen meine Verwandten bald gut bekannt wurden. Zu ihnen kamen auch Kinder als Gäste, und wenn Oma etwas zu essen hatte, gab sie auch ihnen.Ich will damit nicht sagen, dass meine Mutter und Oma ihre Nachbarn sehr geliebt haben. Das wäre eine Lüge, sie haben aber verstanden, dass diese Frauen und Kinder nicht am Krieg schuld waren.In den verlassenen Wohnungen haben sie für ihre Wohnung ein Büfett gefunden, ein Bett und einen Kleiderschrank. Das Bett war mit breiten und hohen schwarzen Bettseiten gemalt! (Julias Zeichnung des Bettes). Ich habe mit meiner Oma zusammen viele Jahre in diesem Bett geschlafen. Eine alte Kommode stand auch bei uns.Mutti erzählte: Es kam einmal eine junge Frau zu ihnen und zeigte eine schöne rote Blumenvase. Was willst du dafür?, fragte meine Mutter. - Einen Teller Suppe.Elisabeth, ich verstehe Ihre Gefühle, ich weine selbst beim Schreiben. Aber Mutti ist nicht schuldig, dass es so war. Die Vase, ich habe sie Ihnen ja gezeigt, steht heute auf ihrem Ehrenplatz bei uns. Mutti sagt immer wieder: Wenn ich das Mädchen Dora finden könnte! Sie war oft bei Oma und Mutti. Ihre Schwester Hannelore ist vom Hunger geschwollen und verstorben.Elisabeth, wer ist daran schuldig? Wer ist daran schuldig, dass Ihre Tante Ella das Grab Ihres Mannes, einige Stunden nach dem Begraben, aufgewühlt fand? Wer? Elisabeth, es ist mir schwer, über die Taten der Faschisten in Weißrussland zu schreiben, ich habe Ihnen über die vernichtete Familie von Omas Schwester erzählt, eine große Familie ist in Liepeja liegen geblieben, einige Verwandte sind an der Front geblieben.Bei uns gibt es ein russisches Lied, das man im Film Offiziere singt: Es gibt in Russland keine Familie, in der man sich nicht an einen Helden erinnert ...Meine Kindheit war nicht schlecht. Ich war nicht immer satt, Mutti verdiente nicht viel, hatte aber neben mir viele liebende und von mir geliebte Menschen ...
Inhalt
PrologZugfahrt nach Kaliningrad5. Oktober 19886. Oktober 19887. Oktober 19888. Oktober 1988Sonntag, den 9. Oktober 198810. Oktober 198811. Oktober 198812. Oktober 198813. Oktober 198814. Oktober 198815. Oktober 1988Ein Jahr danach
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