Beschreibung
Niederlande, 1943: Mentje de Vries ist 9 Jahre alt, als ihr Vater verhaftet wird, weil er Juden versteckt hat. Erst harrt sie allein auf dem väterlichen Bauernhof aus, doch als die Soldaten wiederkommen, weiß sie: Sie braucht Hilfe. Aber wem kann sie trauen? Der Einzige, der ihr einfällt, ist der Anwalt, der die jüdische Familie bei ihnen versteckt hat. Er bringt Mentje im 'Versteckten Dorf' unter, einer geheimen Ansammlung von Häusern im Wald, in der Juden unterstützt von Widerständlern den Krieg zu überleben hoffen. Mentje taucht ein in eine völlig fremde Welt, immer hoffend, dass ihr Vater wiederkommt. Als sie einem alliierten Soldaten das Leben rettet, ahnt sie nicht, dass dies für sie der Anfang eines wunderbaren Weges ist.
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Autorenportrait
Irma Joubert ist Historikerin und lebt in Südafrika. Sie war 35 Jahre lang Lehrerin. Nach ihrer Pensionierung fing sie mit dem Schreiben an. Über ihre Heimat hinaus haben sich ihre Romane auch in den Niederlanden, den USA und in Deutschland zu Bestsellern entwickelt und sind mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden.
Leseprobe
1. Kapitel Bosveld, Südafrika, 1933 Erbarmungslos brennt die Sonne vom wolkenlosen Himmel herab. Im Pferch wirbeln die Hufe der Kühe solche Wolken von Staub auf, dass die Gruppe von Menschen, die danebensteht, davon vollkommen eingehüllt wird. Die Stimme des Auktionators dröhnt über alles hinweg. Nirgendwo ist ein Grashalm zu entdecken. Wie eine Leiche liegt das kahl gefressene Land vor ihnen. Zum ersten Mal seit Menschengedenken ist auch der Wasserlauf völlig ausgetrocknet. Tinus presst seinen schmächtigen Rücken gegen die getünchte Mauer und drückt seine nackten Füße fest in den heißen Sand. Seine Augen sind auf den Pferch gerichtet, weg von den Feldern. Vor zwei Wochen ist er mit seinem Großvater das ganze Terrain noch einmal abgegangen - langsam, es hat einen ganzen Tag gedauert. Gegen Sonnenuntergang hat sein Opa gesagt: Wir schaffen es einfach nicht mehr. Tinus hat es zunächst nicht verstanden. Jetzt schon. Die Beiwohner sitzen ein bisschen abseits: Der Mann ist in sich zusammengesunken und weint, neben ihm seine Frau mit ihrem plumpen Körper und ihrem einfältigen Gesicht. Auch sie weint. Ein Häufchen Elend. Tinus schaut in eine andere Richtung. Wenn die beiden bloß verschwinden würden! Wenn sie nur in ihr eigenes Haus gingen und dort blieben! Irgendwo im großen Haus ist Oma. Dieser Tag heute wird mich noch umbringen, hat sie am frühen Morgen gesagt. Ihre Lippen sind dünn und bleich gewesen und ihre Stimme hat sich flach angehört. Nur Tinus und sein Großvater sind starrköpfig genug gewesen, um hinzugehen und zuzuschauen. Jetzt sitzt Opa in seinem glänzend gebügelten Sonntagsanzug neben ihm auf einem Küchenstuhl, die verloschene Pfeife in seinen groben Händen. Sein Hals ist abgemagert. Beinahe sieht er aus wie ein Erdmännchen. Der Auktionator wischt sich den Schweiß von seinem dicken Nacken und versteigert die ausgemergelten Kühe einfach alle en gros. Warum bietet denn niemand?, erkundigt sich Tinus. Es kommt zu laut und zu schrill aus ihm heraus. Manchmal lässt ihn seine Stimme schon im Stich. Keiner hat noch irgendwelche Weidegründe. Die Stimme seines Großvaters ist noch so kräftig wie immer. Die Käufer warten einfach ab und dann kauft einer den ganzen Krempel für nen Appel und nen Ei. Um ein Uhr kommt Großmutter und bringt ihnen Kaffee und Brote. Kommt doch rein. Es ist so heiß. Nein, ich bleibe hier, antwortet Großvater. Ich auch, erklärt Tinus. Sie laden die letzten Gegenstände auf den Wagen von Onkel Grootgert: Bettgestelle, Geschirr, Küchengeräte. Die Zelte. Den Küchentisch mit den vier Stühlen. Eine Wäschetrommel mit Kleidungsstücken und Bettwäsche, ganz oben darauf die Bibel. Jetzt schaut es so aus, als würden sie einfach nur für das Abendmahlswochenende ins Dorf fahren. Dann sieht Tinus sie kommen, vom anderen Ende des leeren Pferchs: die Beiwohner. Der Mann trägt einen verschlissenen Koffer in der einen und seinen Geigenkasten in der anderen Hand. Unter seinem Arm klemmt ein gerahmtes Bild. Die Frau balanciert ein Bündel Bettwäsche auf dem Kopf. Genau wie eine Waschfrau. Kommen die auch mit?, will Tinus wissen. Was hast du denn gedacht?, antwortet sein Großvater, während er den Gurt um das kupferne Bettgestell noch etwas strammer anzieht. Letzte Woche während der Versteigerung hat sich Tinus mehr als je zuvor für diese Menschen geschämt. Die ganze Zeit über hat er gefürchtet, dass dieser Schwachkopf von einem Beiwohner wieder einen von seinen Anfällen kriegen könnte. Er hat gemerkt, wie die Leute aus der Gegend geradezu darauf gelauert haben. Dafür waren sie also gekommen? Nicht um etwas zu kaufen. Sondern nur um zuzusehen, wie der stolze Martinus van Jaarsveld und seine hochmütige Frau vom Sockel gestürzt werden. Um mit eigenen Augen den Mann zu sehen, der manchmal schreiend durch die Gegend rennt. Den bekloppten Simon. Und um sich über den Jungen, der den Familiennamen trägt, das Maul zu zerreißen. Über ihn, Martinus Daniël. Am Eingangsgatter der Farm steigt Tinus vom Wagen. Zum letzten Mal spürt er den heißen Sand des Bosvelds unter seinen Füßen. Zum letzten Mal wirft er einen Blick über die Landschaft, in der er aufgewachsen ist. Dann öffnet er das Gatter und geht wieder zum Wagen. Eines Tages kaufe ich die Farm wieder zurück, verkündet er grimmig. Ich schwöre es, Opa: Irgendwann wird Buffelspoort wieder in den Händen eines van Jaarsveld sein. 2. Kapitel Vierhouten, Niederlande, Juli 1943 Die Sommersonne scheint ihr warm auf den Rücken. Das Gras steht hoch und in frischem Grün, Futter für die Kühe in den kommenden, langen Wintermonaten. Rhythmisch schwingt ihr Vater die lange Sense hin und her, hin und her. Mentje recht das gemähte Heu zu großen Haufen zusammen. Es duftet nach frisch geschnittenen Kräutern und ein bisschen nach Pfefferminze. Wo hast du denn deinen Hut?, will ihr Vater wissen, ohne dabei aufzuschauen. Ehe du dich versiehst, hast du heute Abend wieder einen Sonnenbrand. Mist, ihr Hut! Sie vergisst ihn aber auch ständig! Doch da bricht in der Nähe des Hauses plötzlich ein großes Durcheinander los. Alle beide schauen mit einem Ruck auf. Mentje sieht das Entsetzen in den Augen ihres Vaters, aber das hält nur einen Augenblick an. Runter, flach auf den Boden, Mentje, hinter den Heuhaufen! Und keine Bewegung, bis ich dich holen komme, befiehlt ihr Vater, während er losrennt. Warum, Papa? Runter, habe ich gesagt, ruft er ihr über die Schulter zu. Ich bin gleich wieder da. Sie lässt sich hinfallen und kriecht auf dem Bauch hinter den Heuhaufen. Dort presst sie sich das Kinn auf die Brust und schließt fest die Augen. Der Heuhaufen, den sie eben noch zusammengerecht hat, erscheint ihr mit einem Mal sehr niedrig. Vom Haus her sind Stimmen zu hören, wütende, kreischende Stimmen. Mentje hält sich die Ohren zu, doch selbst dann hört sie noch, wie das Baby die Gegend zusammenschreit. Was ist passiert? Hat das Baby sich verletzt? Oder vielleicht der kleine Junge? Ist er womöglich von der Leiter gefallen? Oder noch schlimmer: Brennt es irgendwo? Im Stall? Ihr Herz beginnt zu klopfen. Vater hatte bei der Kerze zwischen den Strohballen immer ein schlechtes Gefühl. Oder ist erneut der Stier aus der Weide ausgebrochen? Genau wie vor zwei Jahren, als ihr Vater beinahe Nein. Nein, so etwas geschieht nicht noch einmal. Oder sind die Soldaten gekommen? Das möchte sie nicht denken, aber sie hat immer Angst gehabt, das Baby könnte weinen, wenn die Soldaten kamen, um Milch oder Eier zu holen. Sie versucht, einen klaren Kopf zu behalten. Das Baby hat doch erst zu weinen angefangen, nachdem der Lärm beim Haus schon losgebrochen war, oder? Ja, mit Sicherheit. Also können es nicht die Soldaten sein. Oder vielleicht doch? Mentje hat nie Angst vor den Soldaten gehabt. Seit Anfang des Krieges hat man sie auf der Straße gesehen, in Nunspeet und sogar in Vierhouten. Möglichst unauffällig hat sie sie immer beobachtet, wenn sie auf dem Weg zur Schule war, und wenn sie sie hat kommen sehen, hat sie meistens die Straßenseite gewechselt. Wirklich Angst hat sie nie gehabt. Doch seitdem die Familie Friedman bei ihnen eingezogen ist, ist das ganz anders geworden. Eines Abends hat ihr Vater fast schon beiläufig gesagt: Mentje, ich muss etwas mit dir besprechen. Es war ein kalter Winterabend gewesen, Anfang des Jahres. Vater hat noch einen Scheit Holz ins Feuer geworfen, sich in seinen Lehnstuhl gesetzt und die Beine ausgestreckt, sodass die Füße dicht am warmen Ofen waren. Draußen hat ein eisiger Wind geweht. Es kommt einem vor wie am Nordpol, hat Mentje festgestellt, während sie ihrem Vater einen Becher Kaffee eingeschenkt hat. Für sich selbst hat sie ein Glas warme Milch geholt. Geduldig hat sie abgewartet. Die Familie Friedman muss sich im Durchgangslager Westerbork melden, hat ihr Vater schließlich verkündet. Mentje hat gespürt, wie sie unruhig wurde. Sie hat diese Familie nicht gekannt; sie hat nur gewusst, dass ihr Vater täglich ein paar Kannen Milch in deren Geschäft in Nunspeet abliefert...